Tage Alter Musik – Programmheft 2009

der Musik – übermittelt: sie war eine intellektuelle, wissenschaftliche Denkerin, aber auch eine Mystikerin, eine Frau mit Idealen, bereit zum Kampf. Aber sie erwählte die Musik zu ihrem höchsten Ausdrucksmittel – zu einem überdies, das wenig gemein hatte mit der Strenge und ziemlich asketischen Qualität der zisterziensischen Reformen oder mit den aus- drücklich pastoralen oder didaktischen Absichten, mit denen die Kanons von Saint-Victor, zum Beispiel, ihre Sequenzen durchdrangen. Hildegards Melodien können ebensowenig von ihrer kulturellen Umge- bung geschieden werden wie die des Hortus deliciarum. Mit der einzigen Ausnahme des ‘Spiels’, in dem eine Reihe femininer Tugenden den Teufel im sogenannten Ordo Virtutum austreibt, sind alle musikalischen Kompo- sitionen Hildegards eng verbunden mit der Liturgie. Eine Quelle, aus der sie schöpfte, war Musik, die zu Ehren lokaler Heiliger geschrieben war, und dieser Einfluss prägt ihre eigenen Melodien. Im zweiten Teil unseres Programms erklingt Musik dieser beiden großen Figuren, Hildegard und Herrad ; wir beginnen diesen Abschnitt mit dem Hymnus Enixa est puerpera aus der Zisterzienser-Abtei von Pairis bei Col- mar. Es folgen zwei Conductus aus dem Hortus deliciarum, der Tropus Agnus Dei – Ave Maria und die Motette O Johannes doce nos / Inter natos mu- lierum . III. Völker der Welt am überirdischen Hof und in himmlischen Freuden Das religiöse Leben in Prag war von seinen ersten Anfängen an stark von den Taten hervorragender Persönlichkeiten beeinflusst, vor allem von den beiden Schutzpatronen der Stadt, Ludmilla (860-921) – Ehefrau des ersten christlichen Königs von Böhmen – und ihrem Enkel Wenceslas (906-35), beide ermordet von Mitgliedern ihrer eigenen Familie. Diese Heiligen wurden zuerst geehrt imKonvent des Heiligen Georg, einer Gemeinschaft von Benediktinernonnen, die mitten imHerzen der Prager Burg im späten zehnten Jahrhundert von Prinz Boleslav und seiner Schwester Mlada ge- gründet wurde; aber der Ludmilla-Kult, durch berühmte Wunder am Leben erhalten, entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert weiter, als die Le- gende, die den Text der ihr gewidmeten Messe inspirierte, geschrieben wurde. Die Gründung religiöser Gemeinschaften – Benediktiner, Zisterzi- enser, Prämonstratenser, dann im 13. Jahrhundert, Dominikaner und Franziskaner – leistete einen frühen Beitrag zur Bereicherung des musika- lischen Lebens in Böhmen. Kultureller Austausch erfolgte auch durch Kontakte zwischen Souverä- nen, durch die Reform des Klerus unter Georg VII., durch die Kreuzzüge – einschließlich des Zweiten Kreuzzugs, an dem Vladislas II. (1140-73) teilnahm, indem er dem Ruf St. Bernards folgte – und schließlich durch die Migration von Bauern und später Kaufleuten aus ganz Europa. Die ersten bekannten Handschriften mit der Prager Liturgie stammen aus dem 12. Jahrhundert. Im folgenden Jahrhundert erhielt der Chor des Doms – wiederaufgebaut ab 1342 – eine neue Pacht auf Lebenszeit im Schatten der Universität, die 1364 von Karl IV. (1316-78), dem Sohn des Jo- hannes von Luxemburg (König von Böhmen 1310-46), gegründet wurde. König Johann, der die letzte Prinzessin der tschechischen Dynastie gehei- ratet hatte, holte französische Architekten, Bildhauer und Maler nach Böh- men. Er hatte den Musiker Guillaume de Machaut in seinen Dienst ge- nommen, und im Laufe seiner ausgedehnten Reisen verbreitete sich der neue musikalische Stil des 14. Jahrhunderts (die Ars Nova) in Europa und besonders in Prag. Den Kirchenmusikern der Stadt gelang es, die Einflüs- se aus Deutschland, und in dieser Zeit besonders aus Frankreich und Ita- lien, in ihre eigenen musikalischen Traditionen zu integrieren. So kam es, dass Prag eines der bekannten Zentren wurde für Kompositionen inner- halb neuer Musikgattungen für eine oder mehr Stimmen: Motetten und besonders die als Cantiones bekannten lateinischen Lieder. Die kurze Cantio Hac nube irrorante soll nach den Anweisungen der Hand- schrift gleich nach dem Introitus Rorate celi gesungen werden – im Kon- zert in einer außergewöhnlichen zweistimmigen Fassung – und glossiert sowohl dieses als auch seinen damit verbundenen Psalmentext Celi enar- rant und die Lobpreisung Gloria patri . Die Anwesenheit Guillaume de Machauts in Prag im 14. Jahrhundert war wahrscheinlich der Ursprung der außerordentlichen Entwicklung der Motettengattung dort. Auf das Weihnachtsfest weist die Motette Natus est Emmanuel mit dem Engelsgesang ‘Gloria in excelsis Deo’. Dieser dritte Abschnitt unseres Programms gibt einen kleinen Einblick in die musikali- sche Vielfalt liturgischer Feiern im mittelal- terlichen Prag. © Marie-Noël Colette T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2009 36 A USFÜHRENDE USFÜHRENDE D ISCANTUS Hélène Decarpignies Anne Guidet Lucie Jolivet Brigitte Lesne Caroline Magalhaes Catherine Schroeder Catherine Sergent P ROGRAMM „V ISIONEN DER E WIGKEIT “ I. Jerusalem, dort herrscht ewiger Frühling Hymnus: Urbs beata Jerusalem (Hymnaire de Nevers) Communio: Hierusalem surge (Manuskript Laon) Conductus: Omnis saltus libani (Manuskript Saint-Martial) Offertorium: Super flumina Babilonis (Manuskript Laon) Vers: Sion plaude, duc coreas (Manuskript Saint-Martial) Conductus-Motette: Alleluia moduletur Syon filia (Manuskript Oxford/Worcester) II. Garten der Wonnen, in dem die Sonne niemals untergeht Hymnus: Enixa est puerpera (Hymnaire-Processionnal de Pairis) Conductus: Sol oritur occasus nescius (Hortus deliciarum) Conductus: Veri floris sub figura (Hortus deliciarum) Tropus Agnus Dei: Agnus Dei – Ave Maria (Codex Engelberg) Motette: O Johannes doce nos / Inter natos mulierum (Codex Engelberg) III. Völker der Welt am überirdischen Hof und in himmlischen Freuden Introitus: Rorate celi desuper Cantio: Hac nube irrorante Tropus Kyrie: O deus pater ingenite Tropus : Alleluia / Ave benedicta Maria Cantio: Universi populi simul iam gaudete Antiphon: O florens rosa Cantio: O regina, lux divina Motette: Natus est Emanuel / Quem pastores laudavere / Huius sit memoria Discantus wird vom französischen Kulturministerium unterstützt. Cover von Discantus’ “Universi Populi”-CD

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=