Tage Alter Musik – Programmheft 2009

Jahrhundert taucht eine neue Gepflogenheit auf. Der Text des Ordinari- ums – Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei – wird in Musik gesetzt, um einen Zyklus zu bilden: die polyphone Messe. Zwar sind uns viele Frag- mente erhalten, doch die Messe von Tournai ist das erste vollständige Bei- spiel dafür. Es handelt sich dabei um eine Kompilation und nicht um eine einheitliche Komposition, die Stücke sind anonym und stammen aus verschiedenen Orten und Epochen. Sie wurden zusammengestellt und anscheinend von ein und demselben Kopisten notiert. Die oberflächliche Kohäsion des Ganzen beschränkt sich auf die Dreistimmigkeit aller homophonen Stücke mit Ausnahme der abschließenden Motette. Dabei sind deutlich zwei Notationen zu unterscheiden: eine Longa-Notation, die für die Ars Antiqua charakteristisch ist, im Kyrie, Sanctus, Agnus , und eine Brevis-Not- ation, die von einer perfekten Kenntnis der Neuerungen der Ars Nova im Gloria, Credo, Ite missa est zeugt. Diese einerseits archaische, andererseits neuartige Messe zeugt von den musikalischen Umwälzungen, welche die Ars Nova mit sich gebracht hatte. Es wäre falsch, sich homogene musikalische Gepflogenheiten vor- zustellen, die mit dem Erscheinen der Abhandlungen übereinstimmen. Die Welle der Ars Nova verbreitet sich ungleichmäßig je nach Orten und Milieus. Die bestehenden Stile vermischen sich, manche Stücke werden dem Zeitgeschmack angepasst. Gängige Praktiken, die uns heute ana- chronistisch erscheinen, existieren manchmal lange Zeit nebeneinander. Die Messe von Tournai gehört dieser bemerkenswerten Übergangsperi- ode an: Man sieht hier deutlich, wie das Neue die Tradition überlagert. Die Ars Nova . Um 1320 entwickeln Philippe de Vitry, Johannes de Muris, Marchettus von Padua und Jakobus von Lüttich Theorien, die man heute Ars Nova nennt. Ihre wichtigsten Erneuerungen zielen darauf ab, die Mu- siknotation zu rationalisieren. Diese erlaubt von nun an, in einem zwei- zeitigen, imperfekt genannten System zu schreiben, sie führt Farben ein, um Änderungen anzuzeigen (von der Zwei- in die Dreizeitigkeit oder umgekehrt) und neue Schreibweisen für die kleinen Werte. Die kontra- punktischen Regeln schreiben die Richtlinien für die Komposition vor. Im vorangegangenen Jahrhundert hat Franco von Köln den Begriff der Drei- zeitigkeit ausdrücklich mit der christlichen Dreifaltigkeit in Verbindung gebracht. Von nun an kann jeder Wert durch 2 oder durch 3 geteilt wer- den. Die Notation löst sich somit von ihrem metaphysischen Gehalt, um nur mehr Beschreibung eines Klanggeschehens zu sein. Die Tränen der Jungfrau . Die Stadt Tournai ist leidgeprüft. Sie ist das be- deutendste religiöse Zentrum der Grafschaft Flandern, die dem französi- schen Monarchen zum Großteil feindlich gegenübersteht, von diesem je- doch direkt abhängt. Diese Konfliktsituation nutzt der englische König Eduard III. aus und belagert mit seinen Verbündeten Flandern, Brabant und Hennegau im Jahre 1340 die Stadt, womit der hundertjährige Krieg beginnt. Am 16. August 1348 sehen zahlreiche Zeugen in der Kathedrale Tränen aus der Statue der Madonna fließen. Kurze Zeit danach berät sich der Klerus und erklärt, dass es sich tatsächlich um ein Wunder handelt. Als die schwarze Pest 1349 die Stadt heimsucht, wird zu Ehren der Jung- frau ein täglicher Gottesdienst eingeführt. Es handelt sich um eine Messe cum nota , d.h. um eine gesungene Messe, die zeitig am Morgen im Südteil des Querschiffes von einem Geistlichen und fünf Sängern zelebriert wer- den muss. Möglicherweise ist die „Messe von Tournai“ das Resultat die- ser Umstände und kam somit zu den zahlreichen täglichen Feiern der Ka- thedrale hinzu. Philippe, der „besser Motetten schrieb als jeder andere Mensch“. Als Einleitung zur Messe interpretieren wir unter der Schirmherrschaft von Philippe de Vitry die Motette „Impudenter/Virtutibus/Alma redemptoris“ . Dies ist eine Hommage auf den Großen unter den Großen, den von Pe- trarca geachteten Dichter, Theoretiker, Astronomen, Mathematiker, Bi- schof und Diplomaten, der von seinesgleichen als die „Blume der gesam- ten Musikwelt“ bezeichnet wurde: „flos totius mundi musicorum“ . Diese Motette, ein Archetyp der Gattung, besitzt eine isorhythmische Struktur, die in zwei große Abschnitte aufgeteilt ist. Die Teile der Messe : Kyrie, Sanctus und Gloria sind einzigartig und in kei- ner anderen Handschrift zu finden. Dass das Credo in den Manuskripten von Apt, Ivrea, Madrid sowie Las Huelgas erscheint und das Ite missa est in der Handschrift von Ivrea zu finden ist, zeugt von der Verbreitung der musikalischen Strömungen zwischen Norden und Süden und weist mit Sicherheit auf die Verbindungen zum päpstlichen Hof in Avignon hin. In diesen Stücken scheint es uns manchmal, drei Spiegelungen desselben Textes zu hören, wobei die Individualität des Sängers zugunsten des En- sembles abgeschwächt wird. Das Kyrie verläuft in einem rhythmischen Modus, der dem vorangehen- den Jahrhundert eigen war. Sein homophoner, homorhythmischer Stil er- innert an jenen der alten Stimmführungen, die unüblich geworden sind. Der Tenor kann mit keinem bekannten Kyrie in Verbindung gebracht wer- den. Obwohl es sich um eine späte Niederschrift handelt, bleibt die Nota- tion fränkisch (etwa 1330). In der Handschrift nimmt das Kyrie die Hälfte der Seite ein, die andere Hälfte ist dem Beginn des Gloria vorbehalten. Jede Stimme ist auf zwei Linien notiert und hat ihren eigenen Text. Das Gloria ist von ungewöhnlicher Spannweite, sein Stimmumfang ist sehr groß und erfordert von den beiden Oberstimmen eine gewisse Vir- tuosität. Sein besonders spektakuläres Amen besteht aus langen Melis- men, die Hoquetus-Passagen einfassen. Aus der Kompositionsweise ist ersichtlich, dass der Komponist von der Kunst Philippe de Vitrys tiefge- hende Kenntnisse besaß. Das Credo weist eine einfachere, syllabischere Kompositionstechnik auf als das Gloria . Da es in der Handschrift von Las Huelgas (1325) erscheint, ist es sicher, dass es vor den Neuerungen der Ars Nova entstanden ist (Ab- handlung von Philippe de Vitry: 1320). Es könnte sich dabei um die An- passung eines noch älteren Werks „an den Zeitgeschmack“ handeln. Für uns ist dieses Credo das verwirrendste, zwielichtigste Werk der Messe. Es greift auf die alte Diskant-Technik zurück. Paradoxerweise kontrastiert die Einfachheit seiner Struktur mit der Schwierigkeit seiner Ausführung. Die sehr großen Abstände zwischen den Stimmen, ihr fast ständig paral- T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2009 41 Impression von den Tagen Alter Musik 2008: Foto: Hanno Meier Beim Konzert von Diabolus in Musica in der Dominikanerkirche

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