Tage Alter Musik – Programmheft 2009

leler Verlauf sind heikel. Kurze textlose Passa- gen verbinden die großen musikalischen Ab- schnitte, was auch im Gloria der Fall ist und spä- ter üblich werden sollte, und zwar besonders bei Machaut. Sanctus und Agnus Dei weisen unbestreitbare Ähnlichkeiten auf und scheinen vom selben Verfasser zu stammen. Stil und Notation erlau- ben es, sie gegen Ende des 13. / Anfang des 14. Jahrhunderts zu datieren. Das Sanctus ist wie eine Motette notiert, Duplum und Triplum auf zwei Spalten und Tenor unten auf der Seite, wobei jede Stimme von ihrem Text begleitet wird. Ite missa est / Se grace / Cum venerint ist eine zweisprachige Motette mit einer für die Ars nova charakteristischen isorhythmischen Struktur. Aufgezeichnet ist sie in der Handschrift von Ivrea, wo auch mehrere Stücke zu finden sind, die an der Kapelle von Avignon in Gebrauch waren. Außerdem wird sie im Index des leider verloren gegangenen Trémoïlle-Manuskripts er- wähnt. Der Inhalt dieser Handschrift ist nicht bekannt. Während der Text des Motetus geistlich und auf Latein ist, hat das Triplum einen profa- nen Text im französischen Dialekt des Nordens, der mit einigen „Picardismen“ vermischt ist. Die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Texte, die Vielsprachigkeit sowie die Verbindung der pro- fanen Liebe mit einem religiösen Thema sind ge- bräuchliche Bestandteile einer Motette. Die anderen Stücke: Jour a jour la vie , Paris BNF-Pn 6771, fol.66, Paris BN Ms fds Neuerwerbung Diese Komposition ist in vielen Quellen zu fin- den. Das irrtümlich Guillaume de Machaut zu- geschriebene Stück bleibt anonym. Es erscheint gemeinsam mit einer Fassung von Vitrys Motet- te Impudenter im Inventar Pn 23190 (Trémoïlle). Unter den Fassungen findet sich eine Kontrafak- tur auf Latein mit einem religiösen Text. Diese Bearbeitungsgepflogenheit, d. h. die ständige Umarbeitung des Repertoires, veranschaulicht die Durchlässigkeit zwischen den Sphären des Geistlichen und des Profanen: eine andere Art, dem Liebeslied in geistlichem Gewande Eintritt in die Kirche zu verschaffen! Esperance ki en mon quer , Paris, Bn, fonds ital. 568 Diese Rondos erinnern an Mädchen und Frau- en, die gegen ihren Willen ins Kloster gehen mussten. Vielleicht gelang es ihnen, ihre Herzen mit Liebesliedern zu erleichtern. Der Klerus untersagte solche Gepflogenheiten innerhalb der Kirche. Die wiederholten Verbote, Motette, Rondos, Tänze und Kantilenen in die Gottesdienste einzuführen, beweist, wie häufig Zuwiderhandlungen gewesen sein mussten. Für diese beiden Stücke übertrugen wir die Worte des Superius auf alle Stimmen und imitierten so den simultanen Stil. Ovet mundus , Oxford Bodleian Lib. Hatton 81 Hier handelt es sich um ein paraliturgisches Stück, das anstelle der Sequenz steht, die dazu einlädt, zu singen und sich der geheimnisvollen Jungfräulichkeit Mariens zu erfreuen. Dieses vierstimmige Stück hat nur einen Text. Wir haben beschlossen, Tenor, Contratenor und Dup- lum Vokalisen singen zu lassen. Das Stück be- steht aus zwei Teilen, von denen der erste drei- zeitig, der zweite zweizeitig ist. Die genaue Funktion dieser paraliturgischen Stücke ist uns unbekannt, doch ist es wahrscheinlich, dass sie im Rahmen der Messe anstelle der Sequenz ge- sungen werden konnten. Der gregorianische Choral gehört in die Messe der Vigil von Mariä Himmelfahrt, die am Vor- abend des 15. August, also in der Nacht oder wie die Messe von Tournai früh morgens statt- fand. Das „gregorianische“ Repertoire stellt einen der Höhepunkte der westlichen Musik- kultur dar. Für uns ist es Gegenstand einer rigo- rosen Interpretationsarbeit. Die Monodie legt durch ihren Zusammenhang mit der Akustik, die gewisse Obertöne verstärkt, eine polyphone Architektur nahe. Es ist immer ergreifend, eine allein singende, demütige, fragile Stimme zu hören, wie sie diese gewundenen, zum Gebet bestimmten Linien in den Raum zeichnet. Der unisono Gesang erlaubt ein unvergleichliches Erlebnis des Teilens, der Übereinstimmung, der stimmlichen und musikalischen Verschmel- zung. Der Zelebrant gab ursprünglich den Ton an. Aus praktischen Gründen übernahmen das hier die Sängerinnen. Mariä Himmelfahrt ist im Mittelalter ein sehr populäres Fest. Im Kirchen- jahr wird Maria mit elf festen und drei bewegli- chen Feiertagen geehrt, zu denen viele örtliche Feste hinzukommen. Eine Herausforderung an den Interpreten: Kann man eine objektive Meinung über die Ge- schichte haben? Beschreibt ein Datum eine ho- mogene Realität über ein ganzes Gebiet? Der berühmte Mittelalter-Spezialist Georges Duby forderte ein Recht auf „subjektive Geschichte“, denn, so sagte er, „indem wir die Vergangenheit beobachten, schreiben wir nie etwas anderes als die Geschichte unserer Zeit.“ Das müsste uns bescheiden machen. Nachdem man ein Maxi- mum an Informationen zur Kenntnis genom- men hat, muss man ehrlich das, was man weiß, von dem trennen, was man daraus schließt. Wenn der Interpret Zweideutigkeiten auf dieser Ebene vermeidet, kann er große Freiheit for- dern. Unsere Wahl: Unsere musikalischen Hypothesen beruhen auf der Anwendung der von Jean de Murs erlasse- nen Regeln des Kontrapunkts. Wir schlagen zu- sätzliche Alterierungen vor, die Korrektur be- stimmter Intervalle, die anscheinend auf Fehler von Kopisten zurückzuführen sind, einige rhy- thmische Varianten sowie die Umstellung eini- ger Silben für den Komfort des Sängers. Die Notation erwähnt nur selten Alterationen. ( ficta : vorgetäuscht steht recta , der strengen Regel entspre- chend , gegenüber). Es ist Sache des Interpreten, sie hinzuzufügen, und zwar entweder, weil dies notwendig ist ( causa necessitatis) , um bestimmte Intervalle zu korrigieren, oder aus Geschmacks- gründen ( causa pulchritudinis) . Die „notwendi- gen“ Gründe bleiben heute noch relativ objektiv, doch diejenigen, die die „Schönheit“ betreffen, sind vollkommen subjektiv geworden. Die „Irrtümer“ der Kopisten: Wir haben manch- mal zwischen allen Stimmen mehrere Breves lang kontinuierlich Dissonanzen festgestellt: z. B. e f g / d e f / c d e ... Wollte man so singen, so würde das Arten von vokalen „Clustern“ erge- ben, die in diesem musikalischen Kontext sehr merkwürdig wären. Wir nahmen an, dass es T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2009 42 Schottenkirche Um 1090 erhielten irische Benediktiner ein Grundstück vor den Mauern der Stadt zum Bau ihres Klosters. Von der ersten Jakobskir- che, die 1120 geweiht wurde, sind die beiden Osttürme erhalten. St. Jakob wurde das Mut- terkloster aller Nierderlassungen irischer Mönche im deutschsprachigen Raum. 1216 war der Bau vollendet. Im 16. Jahrhundert lösten schottische Mönche die Iren von St. Jakob ab, und bis 1862 gehörte das Kloster zum schottischen Zweig der Benediktiner. Die Schottenkirche ist vor allem berühmt wegen ihres Portals mit seinem rätselhaf- ten plastischen Schmuck. Hinter dem Por- tal im Inneren ist die liegende Figur des Mönches Rydan als Türschließer darge- stellt. Der Mönchschor besitzt noch die alten steinernen Chorgestühlschranken und den originalen Bodenbelag des 12. Jahrhunderts. Die Gestaltung der vielen Säulchen hat Parallelen in der englischen Architektur. Verschiedene Ausstattungs- stücke haben sich erhalten: die romanische Kreuzigungsgruppe, eine Madonna und die Heiligen Jakobus, Paulus und Christo- phorus aus dem 14. Jahrhundert.

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