Tage Alter Musik – Programmheft 2009

sich um einen Irrtum des Schreibers handle, und schlugen eine Fassung vor, die unserer Idee von dieser Musik besser entspricht. Die Zahl der Interpreten und die Mitwirkung von Instrumenten oder der Verzicht darauf hingen wohl von den Mitteln des Ortes und des Augen- blicks ab. Im Jahre 1349 gab es fünf Sänger in Tournai, um den täglichen Gottesdienst zu feiern; wir sind zu fünft: zwei für den Tenor und das Trip- lum , eine für das Duplum . Es gibt zu diesem Thema keinen genauen Hin- weis, ein anderes Gleichgewicht bleibt daher durchaus denkbar. Die Nonnen waren äußerst zahlreich und manche davon sehr gebildet. Wenn in Tournai auch nur die Männer die Messe singen durften, so zeu- gen die vielen Kopien dieser Musik für deren große Verbreitung. Viel- leicht wurde sie anderswo von einem weltabgewandten Nonnenchor ge- sungen? Die Tatsache, dass das Credo in Las Huelgas, einem Nonnenklo- ster, zu finden ist, macht diese Annahme plausibel. Das Mittelalter war frauenfeindlich, und die Geschichte wurde von Männern geschrieben, was die Forschungen nicht erleichtert. Die Grundfrage bleibt: Welche ästhetischen Auswirkungen bringt eine solche Entscheidung mit sich? Hat die Musik ein Geschlecht? Gäbe es größere Unterschiede zwischen einer Interpretation durch Männer und einer durch Frauen als zwischen einer von Japanern und einer von Norwegern? Anders ausgedrückt: ist die Weiblichkeit etwa eine musikalische Gegebenheit? Die Stimmtechnik, die angewandten Mechanismen, die Homogenität, die Qualität des Tim- bres, der Gebrauch von nasalen Klängen, die Kraft, die Geschmeidigkeit, die Verzierungen, der Tactus , die Aussprache, das Temperament, die Dy- namik, der Stimmton usw. sind Entscheidungen, die weit über den einfa- chen Parameter Mann/Frau hinaus zutiefst Einfluss auf die Interpretation haben. Diese Entscheidungen entsprechen den idiomatischen Möglichkeiten un- seres Ensembles und erheben keinerlei Anspruch auf historische Rekonstruktion. Wenn in mehreren Handschriften das gleiche Stück zu finden ist, stellt man oft Unterschiede bei der Anordnung des Textes fest. Beim Credo , das in vier Quellen kopiert wurde, steht der Text unter jeder Stimme, außer in Las Huelgas, wo er nur unter dem Superius zu lesen ist. Handelt es sich um eine Fassung für Singstimme und Instrumente? Die Sänger können leicht auf die Anordnung eines so bekannten Textes schließen. Das Fehlen des Textes unter einer Stimme, wie etwa unter dem Tenor einer Motette, scheint uns nicht bedeutungsvoll. Ästhetische Dispute machen Vertreter des Althergebrachten und der Neuerungen zu Gegnern. Im Jahre 1324 erlässt Papst Johannes XXII. in Avignon ein Dekret, in dem er die Ars Nova verdammt. Er verbietet deren Ausübung, die seiner Meinung nach zu einer Zurschaustellung der Vir- tuosität führt. Der Missbrauch der Hoquetus-Technik mache die Texte un- verständlich und eigne sich wenig zur inneren Sammlung. Paradoxerwei- se floriert die religiöse Polyphonie des „neuen Stils“, und zwar auch am Hof des Papstes. Dieses Manuskript verknüpft die Musik bald mit der Ars Antiqua , bald mit der Ars Nova ; soll man diese stilistischen Unterschiede eher verbergen oder im Gegenteil hervorheben? Das Ensemble widmet sich seit mehreren Jahren dem Studium dieser Epoche der intellektuellen Gärung, der Spekulation und der Wandlungen. Wir möchten Ihnen mit unserem Konzert die stimmliche Konkretisierung unserer musikalischer Hypothesen vorlegen. © Laurence Brisset T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2009 43 A USFÜHRENDE E NSEMBLE DE C AELIS Florence Limon Estelle Nadau Léna Orye Caroline Tarrit Laurence Brisset P ROGRAMM P HILIPPE DE V ITRY Impudenter circumivi / Virtutis laudabilis / (1291-1361) Alma redemptoris mater (Apt fol 13v-14, Bern, Bruxelles, Florence, Strasbourg, Ivrea) I NTROITUS Vultum tuum deprecabuntur Gregorianischer Choral: In Assumptione B. Marie Virginis ad missam in vigilia Kyrie eleison (Missa Tournai, Bibliothèque de la Cathédrale de Tournai, Ms A 27) Gloria in excelsis Deo (Missa Tournai, Bibliothèque de la Cathédrale de Tournai, Ms A 27) G RADUALE Benedicta et venerabilis Gregorianischer Choral: In Assumptione B. Marie Virginis ad missam in vigilia A LLELUIA Gregorianischer Choral: In Assumptione B.Marie Virginis ad missam in vigilia Credo in unum deum (Missa Tournai, Las Huelgas, Madrid, Apt.) Ovet mundus letabundus (Oxford, Bodleian Library, Hatton 81) O FFERTORIUM Beata es Virgo Maria Gregorianischer Choral: In Assumptione B. Marie Virginis ad missam in vigilia Sanctus (Missa Tournai, Bibliothèque de la Cathédrale de Tournai, Ms A 27) Agnus Dei (Missa Tournai, Bibliothèque de la Cathédrale de Tournai, Ms A 27) C OMMUNIO Beata viscera Mariae Virginis Gregorianischer Choral: In Assumptione B. Marie Virginis ad missam in vigilia I TE M ISSA E ST Se grace n’est a mon maintient / Cum venerint / Ite missa est (Bibliothèque de la Cathédrale de Tournai, Ivrea) Esperance ki enmon quer (Paris, BN, fonds ital. 568) Jour a jour la vie (Paris, BNF-Pn 6771)

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