Tage Alter Musik – Programmheft 2010

TAGEALTERMUSIKREGENSBURG MAI2010 30 Das EnsembleAnima aus São Paulo, Brasilien, wurde vor 20 Jahren gegründet. Ausgehend von der brasilianischen Rabeca (Rebec), einer schnarrenden Fidel, die ihren Ursprung in ländlichen Regionen Brasiliens hat, erweiterte das Ensemble seine Interpretationen und sein Repertoire dahingehend, dass es dem historischen europäischen Instrumentarium typisch brasilianische, afrikanische und aus dem Vorderen Orient stammende Instrumente und Klangfarben beifügte. Durch die Verbindung mit ruralen brasilianischen Musiktraditionen erfährt die europäische Musik des Mittelalters und der Renaissance eine attraktive Bereicherung. Die so entstandenen Arrangements vermitteln einen ständigen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Volks- und Kunstmusik, zwischen europäischer, afro-brasilianischer und mündlicher Tradition. Anima konzertierte in Festivals in ganz Süd- und Nordamerika. Das Ensemble erhielt die höchsten Auszeichnungen in Brasilien, und es hat zahlreiche mit Preisen ausgezeichnete CDs produziert: Espiral do Tempo (1998), Teatro do Descobrimento (1999), Especiarias (2000), Amares (2003), Espelho (2008) und Donzela Guerreira (2010). TheWarrior Maiden (die kriegerische Jungfrau) Das Zusammentreffen von Geist und Seele Seit ihrer Gründung im Jahre 1989 hat die Gruppe Anima einen für ein Kammermusik-Ensemble ziemlich unkonventionellen Weg eingeschlagen. Am Anfang basierte ihr Repertoire hauptsächlich auf den europäischen Quellen des Barock, welches sie werkgetreu, nach den Prinzipien der historischen Aufführungspraxis, interpretierten. Im Laufe der Zeit wurden die ästhetischen Ideale der Gruppe etwas lockerer und sie wurde offener für das soziokulturelle Umfeld. Methodisch korrekte Fragen, wie z. B. „Gibt es einen historischen Beleg?“ oder „Was war die wirkliche Absicht des Komponisten?“ mit welchen sich die Musikwissenschaft befasst, sind von anderen, genau so wichtigen Fragen, wie z. B. „Welche Funktion hat der Musiker heute?“ oder allgemeiner „Gibt es auf musikalischer Ebene eine Vergangenheit in der Gegenwart?“ abgelöst worden. Wenn man offen ist dafür, die musikalische Aktivität auch unter einen phänomenologischen Blickwinkel zu stellen, wozu sowohl die Intuition und die Performance des Musikers als auch wissenschaftlich-technisches Verständnis zählen, dann wird einem beim Zuhören klar, wie reichhaltig die brasilianische Musiktradition ist. Sie gleicht Edelsteinen, die durch die Spannung zwischen den Kulturen und deren Überlagerung durch die langsame Sedimentierung von Rhythmen, Liedern und Tänzen entstanden sind. Sie sind in Ritualen verschmolzen und erleben bei brasilianischen Festen einen dramatischen Höhepunkt. Es war 1991, als José Eduardo Gramani seine erste Fidel erhielt. Zu jener Zeit spielte er Barockgeige bei Anima. Ermutigt durch Valeria Bittar, Flötistin und Mitbegründerin der Gruppe, wurde er neugierig auf die brasilianische Rabeca , ein geigenähnliches, aber fast unbekanntes Instrument. Damals war die Fidel nur eine Fußnote in der ethno-musikwissenschaftlichen Literatur. Sie wurde meist als Abklatsch der berühmteren und respektableren Geige, die v. a. in den Städten verwendet wurde, beschrieben. In der Literatur wurde sie eindeutig als minderwertig dargestellt und als Instrument eines anachronistischen Nationalismus, als ein letzter romantischer Seufzer in einer postmodernen Zeit. Gramani eröffnete einen dritten Weg - einen Weg, der mit Unterschieden lebt und diese als kein Hindernis für die Kreativität ansieht. Er sah die Fidel als Gegenpart zu einer Homogenisierung, die zu einer Kultur der Eintönigkeit und der Standardisierung führt. Für Gramani waren die Basis des kreativen Prozesses die rauen Kanten. Auf diese Weise gewann er Raum für einen interkulturellen Dialog, bei dem das monologhafte Wiederholen des Regelwerks der etablierten Kultur keinen Platz hat. Ohne lang zu theoretisieren benützte Gramani seine Rabecas als Sprachrohr dieses Prozesses, wobei er sich durch Spuren und Erinnerungen leiten ließ. Durch neue Gesprächspartner und die Verlegung von Zeit und Raum wies Gramani den Weg. “Deodora”, eine seiner ersten Kompositionen, ursprünglich für Fidel und Cembalo geschrieben und durch Anima 1993 zum ersten Mal aufgenommen (CD “Trilhas”), ist ein gutes Beispiel für diese Praxis. Auf der Achse der Zeitlosigkeit und Gramanis Weg, der die „Mittelalter-Gegenwart“ im heutigen Brasilien ans Licht brachte, folgend, jedoch mit einer Veränderung durch die Verwendung alter Instrumente (z. B. mittelalterliche Flöten und Clavichord) in neuem Kontext, fundiert Anima seine Konzerte auf den Säulen der Alten Musik und der mündlichen Musiktradition Brasiliens, was sich insgesamt gut ergänzt. Die Nowendigkeit, ein Repertoire zu entwickeln auf der Basis einer minimalen Partitur und einer offenen Kompositionstechnik, die das kreative Eingreifen des Musikers verlangt, brachte uns dazu, ein zentrales Thema und ein Manuskript einzusetzen – als Richtschnur unserer ästhetischen Entscheidungen. Diese Option offenbarte sich uns, da sowohl mittelalterliche Musik als auch die traditionelle mündliche Musik rituelle Elemente bei der Darbietung aufweisen. Diese stammen aus einemprämodernen Zeitalter, gekennzeichnet durch Improvisation und Entwicklung, die auf Wiederholungen basieren. Sie unterscheiden sich so von der aktuellen Kammermusik-Praxis, die vom barocken Ideal einer thematischen Entwicklung herrührt und die Basis der reinen Musik ist. Dieses Ideal wird durch die anerkannten Musikformen (Sonate, Konzert, Symphonie usw.) verkörpert, die, nachdem sie ihre rituelle Funktion verloren hatten, ihre formale Struktur zum Zweck ihrer Existenz machten. Insofern war es eine große Herausforderung für Anima, Warrior Maidenals zentrales Thema zu nehmen. Die Beschäftigung mit einem so tiefgreifenden Thema erzeugte aber auch Unsicherheit hinsichtlich unserer Fähigkeit, ein angemessenes musikalisches Skriptum zu erarbeiten. Als Orientierungshilfe dienten Beispiele wie Diadorim in Guimarães Rosas Grande sertão: veredasundWalnice Nogueira Galvãos Forschung zumThemamaidens, der wir viele der Verknüpfungen in unserem Skriptum verdanken. Wir betrachten diewarrior maidens auch durch eine archetypische Linse, als ein Porträt des Zusammentreffens von animus und anima . Krieg als Wahrzeichen des animus , wo Kraft und Impuls des männlichen Geistes Logik und Rede – beide ebenfalls Merkmale des animus – überlagern. Die warrior maidens andererseits haben als ihr Vorbild Pallas Athene auserkoren. Ihr Mythos steht für das Ersinnen von Strategien, den Kampf für Gerechtigkeit und Überzeugung mittels Weisheit. Zusammen mit der Gabe der Weissagung, der Intuition und des kreativen Geistes sind sie Merkmale der anima . Die warrior maidens bewegen sich pflichtgemäß zwischen diesen zwei Polen. Erzählungen über die warrior maidens, die sich über Zeit und Kulturen hinweg verändert haben, berichten vom Kern dieses Zusammentreffens. Emma Jung legt in ihrem Buch „Animus undAnima“ diese Konzepte in einem breiten psychischen Spektrum, das die oberflächliche Anima (Brasilien) Sonntag, 23. Mai 2010, 16.00 Uhr Reichssaal , Rathausplatz Donzela Guerreira – Warrior Maiden – Die kriegerische Jungfrau Anima

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