Tage Alter Musik – Programmheft 2011

Die herausragenden Stücke des Werkes sind die beiden Chöre, wirkliche Festmusik: Die instrumentale Besetzung ist die gleiche wie bei den Teilen I, III und VI des Weihnachtsoratoriums (sie umfasst unter anderem drei Trompeten und Pauken), beide Chöre sind im konzertanten Stil geschrieben, unterscheiden sich aber in der Satzanlage (der zweite Chor mit seinem ausgeprägten Tanzrhythmus ist eine cantus-firmus-Komposition in Strophenform mit sehr kurzen, von einem Präludium und einem Nachspiel umrahmten instrumentalen Zwischenspielen). Die zweite der beiden Arien, eine Sopranarie, ist ungewöhnlich im Charakter: In dem generalbassfreien Satz wird die Singstimme durch drei Instrumentalstimmen verstärkt, die von zwei Querflöten, der Oboe I und Violen und Violinen unisono ausgeführt werden. Ebenfalls im Mittelteil (Nr. 7, 8, 9), der in der Neuausgabe zu einer dreigeteilten Einheit (Nr. 7a, 7b, 7c) zusammengefasst wurde, verwendet Bach eine weitere ungewöhnliche Kompositionstechnik: Ein kurzes Accompagnatorezitativ gibt den Text des Evangeliums wieder, der anschließend in Form eines Duetts weiter behandelt wird, das bildhaft den Textgehalt von den „zwei Männern in weißen Gewändern“ nachempfindet. Die Motetten nehmen in Bachs Gesamtwerk in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung ein: Anders als die geistlichen Kantaten, Passionsmusiken und Oratorien, deren Komposition und Aufführung zu Bachs Amtspflichten als Leipziger Thomaskantor gehörten, entstanden die Motetten als Auftragswerke zu besonderen Gelegenheiten. Die im heutigen Konzert aufgeführte Motette Der Geist hilft unser Schwachheit auf, BWV 226, komponierte J. S. Bach als Auftragswerk für Gedächtnispredigten, die seit 1722 von Dr. Salomon Deyling im Gedenken an hochgestellte Persönlichkeiten gehalten wurden. Diese Feierlichkeiten fanden in der Nikolai-Kirche statt. Für die Motette Der Geist hilft unser Schwachheit auf sind Entstehungszeit und – anlass – die „Beerdigung des seel. Herrn Prof. und Rektoris Ernesti“ im Jahr 1729 – bekannt. Eine weitere Besonderheit der Werkgruppe ist ihr primär vokaler Charakter, durch den sich die Motetten maßgeblich von den anderen größeren kirchenmusikalischen Werken und zumal den Kantaten unterscheiden. Zur Bach-Zeit war die rein vokale Motette bereits antiquiert. Den hohen Rang, den sie früher einmal im liturgischen Rahmen einnahm, hatte sie an die Kantate abgegeben, gleichwohl behielt auch die Motette noch einen festen Platz in der Liturgie. Der Vokalsatz der Motetten ist differenzierter gestaltet als in den meisten anderen Vokalwerken Bachs. Ein Grund dafür dürfte das Bemühen sein, das Fehlen obligater Instrumente, die in den Kantaten, Passionen und Oratorien dem Satzbild soviel Farbe und Abwechslung verleihen, auszugleichen. Instrumente waren jedoch von den Aufführungen der Motetten keineswegs ausgeschlossen, im Gegenteil: Zumindest die Mitwirkung einer Continuogruppe war obligatorisch, darüber hinaus hat sich ein Instrumentalstimmensatz zur MotetteDer Geist hilft unser Schwachheit auf erhalten, der zumindest zum Teil von Bachs eigener Hand stammt und belegt, dass eine instrumentale Verdopplung der Singstimmen durchaus üblich war. Auch im heutigen Konzert wird die doppelchörige Motette von Instrumenten colla partebegleitet erklingen. Für seine erste Weihnachtsfestzeit in Leipzig sowie für sein erstes Osterfest dort 1724 lieferte Bach eine breitgefächerte Auswahl von Kantaten, von denen einige aus früheren Schaffensperioden stammen; andere wiederum schrieb er eigens für seine neuen Gemeinden. Unter den neu komponierten Werken befand sich die erste Version desMagnificats . In Leipzig war es Sitte, zur Vesper der drei Hauptfeste des Kirchenjahres, Ostern, Pfingsten und Weihnachten reich ausgearbeitete Vertonungen dieses Lobgesangs zu singen. Bach wurde erst am 31. Mai 1723 offiziell als Kantor bestallt und hatte keine Zeit, Vorbereitungen für das Pfingstfest zu treffen; es war sodann der Heilige Abend dieses Jahres, an dem er das Magnificat erstmalig aufführte. Abgesehen von seinem lateinischen Text (der auf einer unvergleichlich höheren Stufe als die Mehrzahl deutscher Librettos von Barockkantaten steht) unterscheidet sich das Magnificat in drei wesentlichen Punkten von Bachs Kirchenkantaten. Es gibt keine Rezitative, keine da-capo-Arien und die Wiederaufnahme des thematischen Materials aus der Eröffnung in den Schlusschor verleiht demWerk einen zyklischen Charakter. (Nur sehr selten hat Bach dieses Verfahren in seinen Kantaten angewandt.) Die Orchesterbesetzung für das Magnificat ist typisch für Bachs festliche Kantaten: Drei Trompeten, Pauken, zwei Oboen, zwei Traversflöten, Streicher und Continuo; doch im Gegensatz zu den meisten Kantaten ist die Chorpartitur für fünf Stimmen gesetzt. Der erste der zwölf kurzen Sätze ist ein strahlender Chorus mit vollem Orchester. Der zweite für Solosopran ist (im Gegensatz zu dem der Eröffnung) nur mit Streichern und Continuo instrumentiert. Der dritte Satz ist ebenfalls für Sopran gesetzt und wird durch eine ausdrucksvolle Melodie einer obligaten Oboe d’amore mit Continuo begleitet; dies erfährt eine plötzliche Unterbrechung durch den vierten Satz, den monumentalen und intensiv dramatischen Chor „Omnes generationes“. Der fünfte Satz ist eine Bassarie mit Continuo – „Quia fecit mihi magna“. Der sechste Satz ist ein Duett für Alt und Tenor mit zwei Flöten, Streichern con sordino und Continuo. Im Mittelpunkt des Magnificats steht der fugierte Chor „Fecit potentiam“. Dieser blendende Klangausbruch setzt den fünfstimmigen Chor mit vollem Orchester ein. Der achte Satz ist eine Tenorarie mit Streichern und Continuo: „Deposuit potentes“. Der neunte Satz „Esurientes“ ist für Soloalt mit zwei Traversflöten und Continuo. In der früheren Version verwandte Bach Blockflöten, welche für diese Stimmung sanft nachdenklicher Musik besonders passend klingen. Dem folgt ein Trio für zwei Soprane und einen Alt, „Suscepit Israel“. Die Instrumente des Continuo sind hiervon ausgeschlossen, und die Begleitung besteht aus unisono-Violinen und Violen , über denen die Oboen die Töne des neunten Psalmtons erklingen lassen. Der elfte Satz ist eine fünfstimmige Fuge mit Continuo. Da die ursprünglichen Stimmen des Manuskripts nicht erhalten sind, können wir uns hier der Absichten Bachs nicht gewiss sein – oft wurde in einem solTAGEALTERMUSIKREGENSBURG JUNI2011 8 Die Regensburger Domspatzen beim Eröffnungskonzert der Tage Alter Musik 2010 in der Basilika St. Emmeram Foto: Hanno Meier

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