Tage Alter Musik – Programmheft 2012

bensweise insbesondere für junge Frauen angesehen. In großen Teilen Eu- ropas schickten Väter ihre unverheirateten Töchter ins Kloster, um sie vor möglichem Klatsch und Geschwätz fernzuhalten, sobald sie in die Puber- tät kamen, aber noch unverheiratet waren. Die Versuchung vieler junger Frauen, der Kontrolle durch die Familie zu entfliehen, muss, so wie heute, groß gewesen sein, wie die Motette C’il bruns/In seculum illustriert. In ihr gesteht sich die junge Frau völlig ein, dass der schöne junge Mann sie nicht entführt, damit sie ein religiöses Leben führt, sondern um ihr Herz und, so wird es angedeutet, um ihren Körper zu erobern. Ein bemerkens- wertes deutsches Stück aus dem 15. Jahrhundert, Ain beispel von ainer ep- tissin, erzählt die Geschichte einer Äbtissin, die den Versuchungen des Fleisches erlegen ist. Sich eilig in den vermeintlichen Schleier kleidend, trägt sie schließlich zur großen Belustigung des Chors während des Gott- esdienstes die Unterwäsche ihres Geliebten auf dem Kopf. Die Motette Nonne sanz amour/Moine/Et super aus dem 13. Jahrhundert schildert eine komplizierte Liebesbeziehung zwischen einer Nonne und einem Mönch, die es allem Anschein nach aufgegeben haben, durch sexuelle Enthalt- samkeit nach Glück zu streben! Wie sah das wirkliche Leben jener aus, die sich für ein religiöses Leben, sei es vorübergehend oder dauerhaft, entschieden? Die Nonnen der letz- ten Gruppe von Gesängen im heutigen Konzert sind eingeschlossen, so- wohl im Kloster als auch in ihrem eigenen Körper. Es ist unwahrschein- lich, dass sie jenen Zustand erreicht haben, welcher in der Sequenz Virgi- nes caste geschildert wird: Die Nonnen werden von Christus selbst in ihrem Schlummer behütet und dürfen ruhen, so lange sie wollen. Für den Dichter dieses Gesangs brachte die geistige Heirat mit Christus die Erleichterung mit sich, keine schmerzhafte Geburt, kein lästiges Kinder- mädchen und keine Konkurrenz durch mögliche Mätressen erdulden zu müssen. Der beschwerliche Alltag des abgeschlossenen Lebens richtete sich nach repetitiver Befolgung der Regeln. In Plangit nonna fletibus sinnt die Nonne über ihr beschwerliches Los nach: Zurückgelassen in einer schmutzigen Umgebung, geht sie auf und ab und träumt davon, was sie in der Welt draußen verpasst. Die rekonstruierte Melodie greift auf die melodischen Umrisse der einzigen erhaltenen Quelle zurück und leitet aus ihnen eine plausible Version des Stückes ab. Repetition ist ein zentra- les Moment in Nus ne mi/Nonne sui/Aptatur , eine Motette, in welcher die Nonne, deren Part in der Mittelstimme liegt, sich bitterlich über ihre Pflicht beklagt, täglich zur Matutin zu läuten. Es gibt hier ein Wortspiel: Der Hörer wird dazu gebracht, zu folgern, dass das erzwungene tägliche „Läuten“ der Matutin für das Ritual einer regelmäßigen sexuellen Be- gegnung mit einem Geistlichen stehen könnte. Der Minnesänger-Text Awe meiner iungen tage entstand zwei Jahrhunder- te nach Plangit nonna fletibus , enthält ähnliche Gedanken und wurde voll- ständig von den Interpreten komponiert (wie auch Te mihi meque und Suavissima nunna , beides Dialoge zwischen fiktiven Nonnen und Geistli- chen des späten Mittelalters). In diesem Stück beklagt die Nonne, dass ihr die grüne Welt draußen verschlossen bleibt; sie setzt ihren Schleier in Gegensatz zu den Blumenkränzen, die sie sonst wohl beim Singen hätte tragen können. Das schöne junge Mädchen Bele Doette trauert um ihren Geliebten, sehnt sich nach dem noblen Doo, obwohl dieser in der Schlacht gefallen ist. Der Schock über diese schlechte Nachricht bringt sie dazu, ein Kloster bei der Kirche St. Paulus zu stiften und ihm beizutreten; dort will sie die Ideale der Liebe verteidigen, während sie das Bußge- wand trägt. Bele Doette ist eine chanson de toile , ein Lied, das von Frauen zur Begleitung manueller Arbeiten zur Unterhaltung gesungen wurde. Solche Lieder spiegeln häufig die Lebenserfahrungen von Frauen wider, behandeln diese Erfahrungen aber in fiktiven oder moralisierenden Er- zählungen. ImGegensatz zu Doette, die sich imGrunde selbst einschließt, bringt die Mehrheit der Frauenstimmen in den Gesängen das Bewusst- sein zum Ausdruck, ins Klosterleben gezwungen worden zu sein. Das geistliche Lied Li debonaires Dieus ist um den Refrain ‘der liebe Gott hat mich in sein Gefängnis getan’, komponiert, obschon die Liebe, welche das junge Mädchen spürt, zwiespältig dargestellt wird: Gilt sie Jesus oder einem weltlichen Geliebten? Die körperliche Gefangenschaft konnte durch die Kleidung der Nonnen verstärkt werden, nicht zuletzt durch den Gürtel, der sie an ihre Keuschheit mahnte. Der Refrain ‘Ich spüre die süßen Schmerzen unter meinem Gürtel. Verdammt sei der, der mich zur Nonne machte!’ taucht sowohl im Trouvère-Lied Quant se vient aus dem 13. Jahrhundert als auch in der schönen und komplexen Motette Jolie- ment/Quant voi/Je sui joliete/Aptatur auf. Die Vertonung erinnert den Hörer fortwährend an das Alter der Nonne – gerade einmal 14 Jahre – und stellt dies in den Kontext der aufkeimenden geschlechtlichen Reife, in welchem die junge Frau sich danach sehnt, ihrer eingeschränkten Wirklichkeit zu entfliehen. Um die Trouvère-Version zu rekonstruieren, wurde der Re- frain, der in der Motette erscheint, extrahiert und als unabhängige Melo- die eingesetzt; es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Trouvère-Melodi- en als Grundlage für Vokalpartien in polyphonen Stücken verwendet wurden, wenn der Text so direkt zitiert wurde, wie es hier der Fall ist. Für viele junge Frauen war das religiöse Leben keine Bestrafung, sondern eine Berufung. In der Sequenz In virgulto gracie werden die umschlosse- nen Mauern der Klosterkirche mit einem Garten verglichen, in welchem Christus der göttliche Gärtner und die Nonnen Blumen in voller Blüte sind. Christus, der die Blumen selber gewählt hat, hegt diese und nährt sie mit demWort Gottes. Das Stück erinnert uns daran, dass das klösterli- che Leben, obwohl zweifellos hart und voller Beschwernis für die Non- nen, für einige Frauen Gelegenheiten zu geistigem Wachstum und Erfül- lung durch Gebet, Bildung und das Leben in der Gemeinschaft bot. © Lisa Colton / Übersetzung: Lucas Bennett T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2012 39 P ROGRAMM Castitas - Die Keuschheit Virgines egregie - Sequenz (Roman de Fauvel, 14. Jh.) Virgines egregie - Sequenz (Las Huelgas, 14. Jh.) Casta catholica - Conductus (Las Huelgas, 14. Jh.) Hildegard von Bingen - O dulcissime amator, symphonia virginum (Deutschland, 12. Jh.) Temptatio – Die Versuchung Te mihi meque - Clericus et nonna Dialog (Schweiz, 15 Jh.) Nonne sanz amour/Moine/ Et super - Motette (Frankreich, 13 Jh.) Michael Beheim - Ain beispel von ainer eptissin (Deutschland, 15 Jh.) Cil bruns/ In seculum - Motette (Frankreich, 13 Jh.) In seculum viellatoris - textlose Motette (Frankreich, 13. Jh.) Suavissima nunna - Clericus et nonna Dialog (Rheinland, 11. Jh.) Hermana defuncta – Verstorbene Schwester Salve Regina/Virgo mater clemens - tropierte Antiphon (Süddeutschland, 14. Jh.) O monialis concio - Conductus (Las Huelgas, 14. Jh.) Kyrie/Iesu parce ei - Litanei (Palma de Mallorca, 14. Jh.) En prison - Nonnenklage Awe meiner jungen tage - anon. Lied (Deutschland, 13. Jh.) Bele Doette - chanson de toile (Frankreich, 13. Jh.) Li debonaires Dieus - chanson pieuse (Frankreich, 13. Jh.) Plangit nonna fletibus - planctus monialis (Norditalien, 11. Jh.) Nus ne mi/Nonne sui/ Aptatur - Motette (Frankreich, 13. Jh.) Joliement/Quant voi/Je sui joliete/ Aptatur - Motette (Frankreich, 13 Jh.) Quant se vient en mai - anon. Trouverlied (Frankreich, 13. Jh.) In virgulto gracie - Sequenz (Las Huelgas, 14. Jh.) A USFÜHRENDE E NSEMBLE P EREGRINA Kelly Landerkin Gesang Lorenza Donadini Gesang Hanna Järveläinen Gesang Baptiste Romain Vielle Marc Lewon Gesang, Laute, Gusli Agnieszka Budzinska-Bennett Gesang und Leitung

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