Tage Alter Musik – Programmheft 2012

Mit Reprisenstrukturen, die man aus Sonate und Sinfonie kennt, arbeitet Schubert auch im Gloria, etwa wenn die triumphalen Eröffnungstakte mit ihren rauschenden Sechzehntelläufen im Orchester am Ende des ersten Teils wiederholt werden oder wenn der erste Abschnitt des „Gratias“ nach dem kontrastierenden „Domine Deus“ tongetreu wiederkehrt. Ehr- fürchtige Verehrung des höchsten Herrschers („Rex coelestis“) und eine dankbar-demütige Haltung der Gläu- bigen paaren sich in der Verwebung des majestätischen „Domine“-Themas mit dem eindringlich wiederholten „Gratias agimus tibi“. Die genannte dankbar-demütige Haltung der Gläu- bigen intensiviert Schubert im folgen- den Abschnitt, der flehentlichen An- rufung des Gotteslamms um Erbar- men, während das ergriffene Staunen vor Gott am Ende des Satzes in einem chromatisch aufsteigenden, geradezu entgrenzten Crescendo kulminiert („Quoniam tu solus Sanctus“) und schließlich abrupt in ein mystisches Pianissimo zurücksinkt. Diese Geste, ein Zurückfallen vom lauten, hohen in einen leisen, tiefen Klang, aus der pathetischen Bekräftigung in die leise Betrachtung, wiederholt sich auch vor dem „Et incarnatus est“ und am Ende der Messe, wenn sie mit der innigen Betonung des Schlussworts „pacem“ ausklingt. Im Credo greift Schubert auf eine seit Beginn des 18. Jahrhunderts im süddeutschen Raum verbreitete kirchenmusikalische Praxis zurück, das Anfangswort „Credo“ jedem einzelnen Glaubensartikel voranzustellen. Wie Mozart in seiner Credo-Messe KV 257 lässt Schubert diese „Credo“-Rufe im Unisono singen, was man als Reminiszenz an die früher übliche, einstimmige Intonation des Anfangsverses durch den Prie- ster deuten kann. Hier wird sie in den chori- schen Satz und mithin in das Kollektiv der Gläubigen miteinbezogen. Dieses jeweils durch fanfarenartige Bläserakkorde angekündigte Motto durchzieht – häufig auch verkürzt auf die emphatischen „Credo“-Rufe am Anfang des Themas – den ganzen Satz mit Ausnahme des traditionell abgehobenen Mittelteils „Et incarna- tus est“. Somit begegnet ein fast archaisch an- mutender Chorsatz, der an die klassische Vo- kalpolyphonie des 16. Jahrhunderts erinnerte, hätte Schubert ihn nicht in der avancierten Har- monik des 19. Jahrhunderts gesetzt. Auch das Crucifixus-Thema, das in barocker Manier die Form des Kreuzes nachahmt, gemahnt an ältere Muster – wie vieles in der As-Dur-Messe ein be- merkenswerter Reflex Schuberts auf die Wie- derentdeckung der alten Meister, die in Wien seit Ende des 18. Jahrhunderts reges Interesse unter Musikern und Musikliebhabern fand und mit der er durch Raphael Kiesewetter und Jo- seph Sonnleithner persönlich konfrontiert wurde. Trotz dieser vom Komponisten bewusst angestrebten Verankerung seiner Missa solem- nis in der kirchenmusikalischen Tradition findet Schubert in seiner As-Dur-Messe deutlicher als in seinen früheren Messen einen ihm ganz eige- nen Ton, der vor allem auf einer äußerst kühnen Harmonik basiert. Schon die Grundtonart As- Dur, für die Schubert eine besondere Vorliebe zeigte, war für die Kirchenmusik seiner Zeit un- gewöhnlich. Nach Gustav Schillings Universal- Lexikon der Tonkunst (Stuttgart 1835) gilt As-Dur zwar als Tonart des „frommen Sinns“, in der „Geist und Seele sich hinüber schaukeln in die Heimat himmlischer und geistiger Wesen“, aber auch als charakteristischer Ton für „Tod, Grab, Verwesung, Gericht und Ewigkeit mit allen ihren Geheimnissen“. Dieser „Gräberton“ war einer vorwiegend bei festlich-freudigen Ereig- nissen aufgeführten Missa solemnis wenig an- gemessen. In der Tonartenfolge der Einzelsätze bevorzugt Schubert anstelle der üblichen Quint- gänge die Tonarten, die im Terzabstand zur Grundtonart stehen (C-Dur im Credo, F-Dur im Sanctus, f-Moll im Agnus Dei). Auch innerhalb der einzelnen Sätze dominieren die harmonisch flexibleren Terzverhältnisse. Sie verleihen den einzelnen Teilen der Messe jeweils eine in- dividuelle Klangfarbe, die durch die subtil eingesetzten, oft solistisch hervortretenden Blä- serstimmen noch verstärkt wird. Häufig sind die harmonischen Verläufe sehr gewagt, etwa die vielfältigen, nahezu im Unendlichen verlau- fenden Modulationen der ambitionierten Schlussfuge des Glorias. Mit einer für das frühe 19. Jahrhundert unerhör- ten chromatischen Rückung beginnt auch das Sanctus: Während das Orchester in F-Dur be- ginnt, setzt der Chor im vierten Takt schon in fis-Moll ein, bis zum zweiten „Sanctus“-Ruf wird innerhalb weniger Takte es-Moll erreicht, eine Modulation, die den gewohnten Ablauf im Quintenzirkel gänzlich sprengt und hier wohl Ausdruck des Unfassbaren, Himmlischen, Jen- seitigen ist. Im „Pleni sunt coeli“ mit seinem lichten Bläsersatz, über dem nur die ersten Violinen in zierlichen Sechzehnteltriolen kreisen, entwirft Schubert schließlich eine von jeder Tradition losgelöste, romantische Vi- sion des Paradieses, ein idyllisches Elysium, in dem die Engelsrufe des „Osanna“, begleitet von den Naturtö- nen der Hörner, tänzerisch-leicht- füßig verhallen. Das Agnus Dei schließt wieder an den mit den gleichen Worten beginnen- den Credo -Abschnitt an, während das „Dona nobis“ wie in den Messen der Wiener Klassiker als froher, rondoar- tiger Kehraus über ein betont schlich- tes Thema komponiert ist. Trotz dieser höchst unterschiedlichen musikalischen Gestaltung der einzel- nen Sätze wahrt Schuberts Messe in As dennoch einen sehr einheitlichen Charakter, der sich vor allem einer engen Verwandtschaft des themati- schen Materials der einzelnen Sätze verdankt. Mehrere Themen, wie z. B. „Kyrie eleison“, „et in terra pax“, „Gratias agimus“ und „Pleni sunt coeli“, gehen auf einen gleichen Motivkern zurück und span- nen so einen Bogen über die Grenzen der einzel- nen Sätze. Wenn Schubert die Motivik des „Christe“ später im Gloria („Agnus Dei, qui tol- lis“ und – bemerkenswert – „Quoniam tu solus“) wieder aufgreift oder „Benedictus“ und „Dona nobis“ ähnlich gestaltet, schafft er nicht nur einen musikalischen Zusammenhang zwi- schen den Einzelsätzen, sondern setzt eigene in- haltliche Akzente in der Ausdeutung des Mess- textes. Ob Schubert damit ein persönliches reli- giöses Bekenntnis ablegen wollte, was auch eini- ge auffällige Textauslassungen erklären würde, lässt sich allerdings nicht verifizieren. Letztere könnten ebenso gut auf einen auch in Messen vieler Zeitgenossen recht nachlässigen Umgang mit dem Messtext zurückzuführen sein. Einzig die in allen Messen Schuberts wiederkehrende Auslassung des Glaubensartikels „Et in unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ belegt wohl eine grundsätzliche Skepsis des Komponisten gegenüber der institutionalisier- ten Dogmatik der katholischen Kirche. Schu- berts As-Dur-Messe ist vielmehr geprägt von der aufgeklärten, aber dennoch empfindsamen Glaubenshaltung des späten 18. Jahrhunderts. Die Liturgie der Messe wird nicht abstrakt voll- zogen, sondern individuell durch inniges Bitten und ergriffenes Staunen vor der Allmacht Gott- es mitgestaltet und erlebt. Hierin ist Schuberts As-Dur-Messe seiner schlichteren Deutschen Messe D 872 ebenso verwandt wie Beethovens anspruchsvoller Missa solemnis. Die visionäre musikalische Darstellung der himmlischen Sphären im Sanctus der As-Dur-Messe geht je- doch einen Schritt weiter: Hier manifestiert sich Schuberts enge Verbundenheit mit den Ideen der deutschen Frühromantik und eine neue, auf Transzendenz und eine pantheistische Gotteser- fahrung ausgerichtete Religiosität. T AGE A LTER M USIK R EGENSBURG M AI 2012 8 Franz Schubert

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