Tage Alter Musik – Programmheft 2013

Melancholie und bizarres in den werken von nicola Matteis Immer wenn ich die Musik von Matteis spiele, erfahre ich ein besonderes Vergnügen: das Vergnügen, die Grenze zu überschreiten zwischen unse- rer Welt und der seinen, die praktisch nur einen Bogenstrich von uns ent- fernt liegt und doch so anspruchsvoll in ihrer Originalität ist. Seine Musik und seine Vorstellungskraft oszillieren ständig zwischen Si- cherheit und Magie, dem Bekannten und dem Vagen. Der Pfad, der zu Matteis führt, ist voller Gefahren wegen des Nimbus des Mysteriösen, der ihn umgibt, aber für mich hat er etwas von den ersten Schritten der Suche wie in einem Märchen, wo jedes unterwegs aufgelesene Stück eine Perle ist, deren Kräfte der Magie unberührt erhalten geblieben sind. Meiner An- sicht nach kommt die unheimliche Macht seiner Musik aus dem Nebenei- nander von sehr vertrauten Elementen und Stücken aus einem Rätsel. Auf der Seite der Sicherheiten liegt der violinistische Aspekt seiner Komposi- tionen: Melodie, Metrum, Harmonie – jedes spielt seine wohleingerichte- te Rolle. Matteis war ein hervorragender Geiger, und man spürt dies so- fort, wenn man seine Musik anhört und sie spielt: Alles fällt einem sozu- sagen „unter die Finger“. Die Stücke sind in formaler Hinsicht beruhi- gend: Da ist alles vorhanden, was schöne Suiten erfordern, mit typischen Tänzen, von denen einige direkt einer universalen Folklore entstiegen zu sein scheinen, einfach und bezaubernd. Aber daneben gibt es ein immer präsentes, vom Zufall abhängiges Ele- ment, das uns erstaunt, verwirrt, verunsichert.. Natürlich ist der Ton vio- linistisch, aber mehr als einmal sind die Harmonien überraschend, die melodische Linie scheint plötzlich von Depression oder Verrücktheit er- griffen, und die wohlerzogenen Rhythmen werden besessen bis zum Schwindelanfall. Dies muss mit Sicherheit etwas zu tun haben mit Mat- teis’ empfindlichem Charakter! Obwohl eine solche Beobachtung hochempirisch erscheinen mag, bin ich überzeugt, dass bei einem Musiker-Komponisten musikalische Technik und Erfindung eng verbunden sind und dass dies, wenn wir versuchen, so nahe wie möglich an die Art, wie Matteis selbst spielte, heranzukom- men, einen drastischen Einfluss auf die musikalische Gebärde des Auf- führenden haben kann. Um unsere beiden Welten einander anzunähern, habe ich deshalb eine physikalisch abweichende Annäherungsweise an die Geige versucht. Es folgt nun ein kurzer Versuch, zu erklären, welche Umstände mich dazu brachten, meine Gewohnheiten auf eine ziemlich gefährliche Weise in Frage zu stellen. Ich hoffe, der Zuhörer wird finden, dass es der Mühe wert war! Wenn man ein Musikinstrument zu spielen lernt, beginnt man immer auf Grundlagen, die mehr oder weniger durch die Tradition eingeführt sind, mit dem Ziel, „eine“ vorgegebene Technik zu meistern, die einem dann erlaubt, seine musikalischen Ideen auszudrücken. Aber die Dinge sind bei Originalinstrumenten oft ziemlich anders, da im 17. Jahrhundert der Begriff einer „Schule“ noch nicht gefestigt war und nahezu jeder Musiker seine eigene Technik hatte. Der Fall Nicola Matteis gab uns die Gelegen- heit zu experimentieren, extrem unterschiedliche Lösungen zu suchen und zu finden. Viele Beschreibungen sind erhalten von der Spielweise des Geigers nach seiner Ankunft in London, wo er anscheinend sein Instrument sehr nied- rig (etwa auf Höhe der unteren Rippen) hielt, eine Position, wie sie auf vielen Gemälden aus dem 17. Jahrhundert (besonders solchen aus den Niederlanden) zu sehen ist und die sicherlich eng verbunden sein muss mit folkloristischer Praxis. Wenn man diese niedrige Haltung ausprobiert, entdeckt man, dass Matteis’ Musik perfekt zu dieser Technik passt. Man kann auf leichtere, entspanntere Art spielen und die magische, gar melan- cholische Stimmung vieler der Stücke zumAusdruck bringen. Wenn man John Evelyns Beschreibung von Matteis’ Spielweise aus dem Jahre 1674 liest - ‘I heard that stupendious Violin Signor Nicholao . . . whom certainly never mortal man Exceeded on that instrument: he had a stroak so sweete, & made it speake like the Voice of a man; & when he pleased, like a Con- sort of severall Instruments...’ („Ich hörte den außergewöhnlichen Geiger Sig- nor Nicholao ... den sicherlich nie ein Sterblicher auf dem Instrument übertraf; er hatte einen so süßen Strich & ließ es sprechen wie die Stimme eines Menschen, & wenn es ihm gefiel, wie ein Consort von mehreren In- strumenten...“) – dann bekommt man so- fort eine Ahnung davon, dass Technik uns auch den Schlüssel zur Interpretation geben kann. Folglich, um alle Veränderungen von Af- fekt und Bizarrem (bizzarrie) wahrnehm- bar zu machen, haben wir versucht, dem “Guten Rat zu gutem Spielen” (‘Good ad- vice to play well’) zu folgen, den Matteis in „The False Consonances of Musick“ gibt: ‘you must not play allwayes alike, but somtimes Lowd and sometimes softly, according to your fancy, and if you meet with any Melancholy notes, you must touch them sweet and delicately.’ („Du darfst nicht immer auf die gleiche Art spielen, sondern manchmal laut und manchmal leise entsprechend deiner Fantasie, und wenn du auf irgendwelche melancholischen Noten triffst, musst du sie süß und zart berüh- ren.“) Und bitte glauben Sie uns, wenn wir sagen, dass wir jede Anstrengung unternommen haben, jene melancholischen Noten zu finden und sie mit Ihnen zu teilen... © Amandine Beyer T age a lTer M usik r egensburg M ai 2013 25 P rograMM H enrY P urCell Sonata 6, Z795 (1659-1695) aus Sonatas of Three Parts, 1683 n iCola M aTTeis Suite a-Moll (ca. 1650 – ca. 1700) aus Ayrs for the Violin, 1685 Preludio, Adagio, Alemanda ad imitatione d’un tartaglia, Sarabanda Amorosa, Movimento Incognito, Gavotta H enrY P urCell Sonata 10, Z799 aus Sonatas of Three Parts, 1683 n iCola M aTTeis Suite G-Dur aus Ayrs for the Violin, 1685 Preludio, Musica, Sarabanda, Giga “Al Genio Turchesco”, Aria Burlesca PAUSE n iCola M aTTeis Suite g-Moll aus Ayrs for the Violin, 1685 Preludio in ostinatione, Andamento malinconico, Grave, Aria for the flute, Giga H enrY P urCell Ayre, A new Irish Tune, A new Scotch Tune, Air en Bourrée, A Ground Cembalo solo n iCola M aTTeis Suite C-Dur aus Ayres for the Violin, 1685 Preludio Allegro, Vivace, Fuga, Aria, Sonata, Diverse Bizarrie sopra la Vecchia Sarabanda ò pur Ciaccona Wir danken der Meisterwerkstätte für historische Tasteninstrumente, Rainer Kist, 33607 Bielefeld, für die freundliche Bereitstellung des Cembalos. Wir danken der Universität Regensburg (Fachbereich Musikpädagogik) für die freundliche Bereitstellung der Truhenorgel. a usFüHrenDe g li i nCogniTi amandine beyer Violine und Leitung Yoko kawakubo Violine baldomero barciela Viola da gamba Francesco romano Theorbe & Barockgitarre anna Fontana Cembalo Cover der CD “Matteis: False Consonances of Melancholy” von Gli Incogniti

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