Tage Alter Musik – Programmheft 2014

Neben Cembalo und Orgel studierte Hervé Niquet Komposition, Chorlei- tung und Schauspiel. Er wandte sich früh der Chor- und Orchesterleitung zu. 1980 wurde er als Chorleiter an die Pariser Oper berufen. Zwischen- zeitlich sang er als Tenor im Ensemble „Les Arts Florissants“ unter Wil- liam Christie. 1987 gründete er das Ensemble Le Concert Spirituel, be- nannt nach der gleichnamigen Einrichtung, die im 18. Jahrhundert das Pa- riser Musikleben prägte. Während sich Niquet anfänglich der Wiederent- deckung der französischen „Grands motets“ widmete, setzte er später vermehrt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf teils vergessene Werke fran- zösischer Komponisten, wie André Campra, Jean Gilles, Joseph Bodin de Boismortier, Marc-Antoine Charpentier, Joseph Michel, François d’Agin- cour oder Paolo Lorenzani. Es entstanden zahlreiche CD-Aufnahmen vor allem für das Label Glossa. 2002 gründete Niquet das im kanadischen Montréal beheimatete Barockorchester „La Nouvelle Sinfonie“ und 2005 übernahm er die künstlerische Leitung der „Beethoven Academie Ant- werpen“. Hervé Niquet leitet auch den Vlaams Radio Choir und ist erster Gastdirigent der Philharmonie Brüssel. Beide Funktionen übt er seit Herbst 2011 aus. Hervé Niquet ist außerdem an pädagogischen Projekten für junge Musiker beteiligt (z. B. an der Schola Cantorum Basiliensis, der Academy of Ambronay, dem Atlantic Youth Orchestra, der Opéra Ju- nior of Montpellier, der McGill University of Montréal). Die Vermittlung der neuesten musikwissenschaftlichen Forschungen und seiner eigenen Arbeiten über Interpretation ist ihm ein wichtiges Anliegen. Hervé Niquet wurde mit dem Chevalier de l’Ordre National du Mérite und dem Officier des Arts et Lettres ausgezeichnet. Zum Programm: Im barocken Italien wurden hohe Festtage mit Opern und Serenaden ge- feiert. Bei den Franzosen waren zu solchen Anlässen große Motetten ( grands motets) beliebt, während England die Ode bevorzugte. Oden wur- den zwischen 1660 und 1820 sehr regelmäßig geschrieben, um das neue Jahr anzukündigen, Jubiläen des Königs und der Königin zu begehen oder andere (säkulare) Hauptereignisse im öffentlichen Leben. Oden er- klangen auch bei wenigen Ausnahme-Gelegenheiten: Willkommensoden zur Rückkehr des Königs nach London (Purcell schrieb mindestens neun) und zum Fest der hl. Cäcilia, der Schutzpatronin der Musik, am 22. No- vember. John Blow und Henry Purcell hatten die Aufträge für diese Oden unter sich aufgeteilt: Von der Glorreichen Revolution an, als der katholiken- freundliche König Jakob II. entthront wurde zugunsten des Generalstatt- halters der Niederlande Wilhelms III. von Oranien und seiner Frau (und Cousine) Maria, war es Blow, der die Gelegenheitsmusik zum Geburtstag des Königs schrieb. Purcell übernahm demgegenüber die anscheinend angenehmere Pflicht zu Ehren der Königin. birthday ode for queen Mary, 1694 - Come, ye sons of Art (Z.323) Als Purcell 1694 „Come ye sons of Art, away“ für die Königin schrieb, war er in Hochform und komponierte eine Ode, die sich deutlich von dem Großteil der 22 vorangegangenen Werke abhob. Die Anlage war diesmal größer als gewohnt - an die Stelle der einzeln besetzten Streicher trat ein Orchester – und dem Chor wurde eine klar definierte Rolle zugewiesen. Die Erfolge, die er kurz zuvor mit seinen Bühnenwerken gefeiert hatte, spornten Purcell zu einem weiträumigeren Kompositionsstil an, und der inspirierte, vermutlich von Nahum Tate stammende Text mit zahlreichen Hinweisen auf Musik und Musikinstrumente lieferte Purcells fruchtbarer Phantasie reichhaltiges Material. Die Ouvertüre (die er im folgenden Jahr in „The Indian Queen“ wiederver- wendete) beginnt beeindruckend; die ersten zehn Takte zeichnen sich durch prachtvolle Harmonik aus, und die anschließende lebhafte Canzona weist viele rhythmische Einfälle mit drei kontrastierenden Motiven auf. Von sei- ner genialsten Seite zeigt sich Purcell jedoch in dem melancholischen Ada- gio-Teil; die Seufzermotive und ergreifenden Harmonien sind voller Pathos, und der Einsatz von ausgehaltenen Noten, die sich durch die mittleren und tiefen Stimmen ziehen, ist außergewöhnlich. Anstelle der erwarteten Wie- derholung der Canzona geht es direkt mit dem Anfangschor weiter sowie mit der ersten von mehreren Wiederholungen des Hauptthemas in unter- schiedlichen harmonischen Ausprägungen und Arrangements – eine direkt vom Theater übernommene Technik. Indem die Melodie zuerst von einem Countertenor gesungen wird, löst Purcell geschickt das Problem der Umset- zung für den Chor, für den die Melodie entweder zu tief oder für die So- pranstimmen viel zu hoch gewesen wäre. Außerdem fügt er eine Diskant- stimme hinzu und überlässt die Melodie denAltstimmen, die von Trompete und Oboe verstärkt werden. Bei dem berühmten Duett „Sound the trum- pet“ widerstand Purcell der Versuchung, die im Text genannten Instrumen- te zu verwenden, und entschied sich stattdessen für einen lebhaften zwei- taktigen modulierenden Basso ostinato für die königlichen Continuo-Spie- ler, über deren Part zwei Countertenöre ihre Virtuosität demonstrieren. Bei „You make the list’ning shores resound“ („Du lässt lauschende Ufer wider- hallen“) wurde im Orchester sicherlich geschmunzelt – man kann mit eini- ger Sicherheit davon ausgehen, dass zwei der Instrumentalisten des Ensem- bles die berühmten Trompeter Matthias und William Shore waren. Das Herzstück der Ode, „Strike the viol“, ist eine ekstatische Darstellung der Musik. Es werden darin die Gambe, Laute, Harfe und Flöte (gemeint ist die Blockflöte) genannt, was Purcell (wie immer, wenn im Text von Musik die Rede ist) besonders inspirierte. Er arbeitet hier mit einer Tech- nik, die er in zahlreichen früheren Oden perfektioniert hatte - er kombi- niert einen Basso ostinato mit einem Countertenor-Solo und leitet die Ge- sangspassage dann in ein Instrumentalritornell über. Hier setzt er einen modulierenden zweitaktigen ostinaten Bass ein, der behutsam von Block- flöten begleitet wird. Darüber schlängelt sich die bezaubernde Melodie des Solisten hin. Gekrönt wird das Ganze durch ein Orchester-Ritornell, in dem die beiden Blockflöten mit den Streichinstrumenten alternieren, was eine besonders reizvolle Wirkung hat. „The day that such a blessing gave“ wird zunächst von einem Solobass ge- sungen, und dank Purcells harmonischem Geschick werden jegliche Pro- bleme vermieden, die sich auftun können, wenn die Melodie im Bass er- klingt. In der Mitte verwandelt er das Solo in einen vollständigen Chor, wobei die Melodie im unteren Bereich der Textur verbleibt und die So- pranstimmen im Chor erneut einen Diskant singen müssen. „Bid the Vir- tues“ ist einzigartig, selbst unter den vielen bemerkenswerten Sätzen der Oden. Ein Solosopran und eine Oboe werden in prachtvoller Harmonik und Melodik miteinander verbunden, mal in ausgeschmückter Weise, mal anrührend einfach; stets jedoch außerordentlich gewandt vertont, wie es für Purcell charakteristisch war. Als nächstes folgt „These are the sacred charms“, eine ausgelassene Arie für Solobass über einem lebhaften ostina- ten Bass. Der Schlusssatz, „See Nature, rejoicing“, wird zunächst als Duett von Sopran und Bass gesungen, wobei zwei Moll-Episoden des Rondos für Abwechslung zwischen den einzelnen Wiederholungen sorgen, bevor der ganze Chor samt Orchester Purcells Melodie aufnimmt. T AGe A LTer M usik r eGensburG J uni 2014 31 Hervé Niquet Foto: Eric Manas

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=