Tage Alter Musik – Programmheft 2015

zum Programm: Die Klagelieder des Propheten Jeremias (Lamentationes), in denen die Zer- störung Jerusalems um das Jahr 586 v. Chr. beklagt wird, werden in den drei Kartagen vor Ostern während der Trauermetten (auch „Tenebrae“ ge- nannt) gesungen. Im Zentrum der Matutin stehen drei Nokturnen, die sich jeweils aus drei Psalmen, drei Lektionen und drei Responsorien (die die Wirkung der Lektion vertiefen) zusammensetzen. Am Gründonnerstag, Karfreitag und Karsamstag sind die Lesungen den Klageliedern des Jere- mias entnommen. Mit seiner Vertonung der Lamentationes Prophetae Jere- miae gelang es Emilio de’ Cavalieri (1550-1602) im frühen 17. Jahrhundert, die Monodie in die religiöse Musik einzuführen. Die frühesten mehrstimmigen Vertonungen der Klagelieder stammen aus der Zeit um 1450 von Komponisten wie Johannes Tinctoris (1435-1511) und Johannes de Quadris (1410-1457). Sie tauchten Jahrzehnte später in Samm- lungen des Musikverlegers Ottaviano dei Petrucci (1466-1537) in gedruck- ter Form auf. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts nahm die Vertonung von La- mentationen zu. Der französische Komponist Elzéar Genet Carpentras (1470-1548) führte beispielsweise Neuerungen wie die homophone Schreibweise ein. Der Einfluss Costanzo Festas (1490-1545), der die Jerusa- lem- Refrainsätze imitierend behandelt, ist selbst bei Cavalieris Klageliedern noch zu beobachten. Die genaue Textauswahl der langen Tenebrae-Kom- positionen, die anfangs eher frei war, wurde vom Trienter Konzil (1545- 1563) festgelegt und findet in den Lamentationen von Palestrina erstmals Berücksichtigung. Er verwendete nur spärliche musikalische Textausdeu- tung; es überwiegt die homophone Satztechnik. Eine besondere Stellung nehmen ebenfalls Orlando di Lassos (1532-1594) fünfstimmige Lamentatio- nen ein, welche sich in Textauswahl, Cantus-firmus-Behandlung und ho- mophoner Schreibweise am römischen Stil Palestrinas orientieren. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts brachte Vincenzo Galilei (1520-1591) in Florenz in einem von Diskussionen geprägten Umfeld von Gelehrten, Mu- sikern und Musikliebhabern – auch Florentiner Camerata genannt –, eines der bedeutendsten Traktate jener Zeit he- raus: Dialogo della musica antica et della mo- derna (1581) . Seine Ideen führten zur Bil- dung eines neuen Stils – der Monodie. Ein zentrales Anliegen war die Verständlich- keit und Ausdeutung des Textes. Im be- ginnenden 17. Jahrhundert entwickelte sich im Umkreis der Chiesa Nova, der Oratorianer-Kirche in Rom, daraufhin eine neue Stilrichtung, welche die Lamen- tationen mit der Monodie-Technik ver- band. Einen der frühesten Versuche, die Klagelieder monodisch zu setzen, unternahm Emilio de‘ Cavalieri. Cavalieri tritt als eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Kirchenmusik im Italien des späten 16. Jahrhunderts auf und war nicht nur als Kompo- nist und Organist für die Organisation der Musik von San Marcello in Rom verantwortlich, sondern auch für den Orgelbau in der Kirche Santa Maria in Aracoeli zuständig. Als Ferdinando I. de‘ Medici zum Großfürsten er- nannt wurde, ließ er Cavalieri von Rom nach Florenz kommen, um ihn dort als Generalintendant aller Künste an seinem Hof einzustellen. Dieser übernahm 1589 die Leitung der Hochzeitsfeierlichkeiten anlässlich der Vermählung seines Förderers mit Christine von Lothringen. Die Musik, die Cavalieri zu diesemAnlass schrieb, bildet neben der Rappresentazione di Anima e di Corpo aus dem Jahr 1600 – heute in der Musikgeschichte als ers- tes Oratorium bekannt – einen wichtigen Teil seines Schaffens. Neben diesen beiden Werken ist heutzutage einzig und allein eine weitere Komposition von de‘ Cavalieri erhalten: die Lamentationes Prophetae Jere- miae . Sie sind unbekannter, da sie nie gedruckt wurden, besitzen jedoch dasselbe künstlerische Niveau wie die weitaus bekanntere Rappresentazio- ne. Die Handschrift der Lamentationen befindet sich in der Biblioteca Val- licelliana in Rom und besteht aus zwei Zyklen mit Lesungen (I & II), wobei der zweite Zyklus unvollständig ist. Der Charakter der Lesungen und Re- sponsorien ist dunkel, komplex, dissonant und chromatisch aufgeladen. Die gesungenen hebräischen Buchstaben (Aleph, Beth, Ghimel usw.) leiten die Lesungen im fünfstimmigen imitatorischen Stil ein. Zyklus I, der heute Abend aufgeführt wird, zeigt eine Vielfalt an Stilen. Dabei ist insbesondere auf diemusikalischeAusdruckskraft zuachten,mit der de’ Ca- valieri dieWörter ausschmückt. So verwendet er für die „schmerzhaften“Wör- ter eine dramatische Melodie und drückt Begriffe wie „sola“ (lectio prima, Aleph) oder „ego“ (lectio tertia, Aleph) in Solopartien aus. Die Zusammenge- hörigkeit wird in „plena populo“ (lectio prima, Aleph) und „omnes“ (lectio prima, Ghimel) in mehrstimmigen imitierenden Chorsätzen erzeugt. Disso- nante Intervalle verstärken zusätzlich die Ausdruckskraft von Textabschnitten wie „nec invenit requiem“ (lectio prima, Ghimel) und „angustias“ (lectio prima, Ghimel). Durch die sehr subtile Rhythmik, die gewagte Harmonik und den Wechsel von Chor- und Solopartien gehören die Lamentationes de’ Cava- lieris zuden ausdrucksstärkstenKompositionen jener Zeit. © Lisa Mayer, UR T AGE A LTER M usik R EGEnsbuRG M Ai 2015 11 P ROGRAMM E MiLiO DE ’ C AVALiERi (1550 – 1602) Prima die - Gründonnerstag Intonatione Erste Lesung – Incipit, Aleph, Beth, Ghimel, Jerusalem Erstes Responsorium – Eram quasi agnus Zweite Lesung – Vau, Zain, Heth, Jerusalem Zweites Responsorium – Una hora Dritte Lesung – Jod, Caph, Lamed, Jerusalem Drittes Responsorium – Seniores populi secunda die - karfreitag Intonatione Ricercar secondo (Girolamo Frescobaldi, 1615) Erste Lesung – De lamentatione, Heth, Caph, Jerusalem Erstes Responsorium – Tradiderunt me Zweite Lesung – Lamed, Mem, Nun, Jerusalem Zweites Responsorium – Jesus tradidit Dritte Lesung – Aleph, Beth, Ghimel, Jerusalem Drittes Responsorium – Caligaverunt oculi mei Tertia die - karsamstag Intonatione Ricercar terzo (Girolamo Frescobaldi, 1615) Erste Lesung – De lamentatione, Heth, Heth, Heth, Jerusalem Erstes Responsorium – Astiterunt reges terrae Zweite Lesung – Aleph, Beth, Ghimel, Jerusalem Zweites Responsorium – Aestimatus sum Dritte Lesung – Incipit, Recordare, Hereditas, Pupilli, Jerusalem Drittes Responsorium – Sepulto Domino [Jerusalem] Wir danken der Meisterwerkstätte für Orgelbau, Markus Harder-Völkmann, 85579Neubiberg, für die freundlicheBereitstellungderTruhenorgel unddesCembalos. Konzerteinführung: Prof. Dr. Katelijne Schiltz (sowie als Gast: Elam Rotem), 18.00 Uhr, Haus der Musik, Präsidial-Palais am Bismarckplatz – Eintritt frei! Sendetermin auf BR Klassik: 6.8.2015, 20.03 Uhr A usfüHREnDE P ROfETi DELLA Q uinTA Perrine Devillers Cantus I Doron schleifer Cantus II David feldman Altus Cory knight Tenor I Dan Dunkelblum Tenor II Elam Rotem Bass & Cembalo Ori Harmelin Chitarrone Elizabeth Rumsey Lirone Ryosuke sakamoto Viola da gamba Aki noda Orgel Büste von Emilio de‘ Cavalieri

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