Tage Alter Musik – Programmheft 2015

Bachs berühmte d-Moll-Chaconne aus seiner zweiten Solo-Partita (BWV1004) ist häufig ohne die vorangehenden Sätze im Konzert zu hören. Es liegt nahe, dies zu tun aufgrund der Länge dieses Stücks und seiner architektonisch per- fekten Struktur, dennoch bevorzuge ich es, die Chaconne als einen Teil der ge- samten Partita zu betrachten, und spiele sie viel lieber imZusammenhangmit den vorangehenden Sätzen. Dadurch erscheint die Chaconne noch herausra- gender und schließt die gesamte Partita in vollkommener Weise ab. Die Tartini-Sonaten für Violine solo waren mir bis vor ein paar Jahren noch un- bekannt. David Takeno, mein ehemaliger Lehrer, gabmir eine Kopie desManu- skripts (dasOriginal befindet sich inPadua).DieHandschrift Tartinis ist ziemlich klar, wenn auch sehr klein, und die Stücke sind durchweg bedeutend und ein- nehmend.Manchmal schreibt Tartini eineBasso-continuo-Stimmeunter dieGei- genlinie, sagt aber gleichzeitig sehr deutlich, dass seine wahre Absicht immer war, diese Stücke ohne einen Bass zu spielen, da dann totale Freiheit herrschen würde. Die a-Moll-Sonate ist ein Stück voller Offenheit und Lebensfreude. Bibers Passacaglia für Violine solo steht am Ende seiner 16 Rosenkranz-Sona- ten. Alle anderen Sonaten haben einen Basso continuo, abgesehen von dieser letzten Sonate. In der Handschrift geht ihr die Darstellung eines Schutzengels voran. Man kann die Passacaglia also durchaus als „Schutzengel-Sonate“ ver- stehen, wodurch auch ihre Struktur zum Symbol wird. Wie der Schutzengel den Menschen auf allen seinen Wegen geleitet, so geleitet die immer wieder- kehrende Bassfigur (4 Töne abwärts) die Violine mit ihren scheinbar improvi- siertenAbschnitten durch alle harmonischen Höhen und Tiefen des Stücks. zum Programm: Die britische Violinistin Rachel Podger spielt ihre Lieblingswerke in einemSoloreci- tal für Violine „senza Basso“. Neben Soloso- naten vonHeinrich Ignaz Franz Biber (1644- 1704) erklingen Partiten von Johann Sebasti- an Bach (1685-1750) und Giuseppe Tartini (1692-1770), dessen Solosonaten die Geige- rin vor wenigen Jahren im Autographen kennenlernte. Die aufgeführte Musik zeigt, wie Komponisten des Barockzeitalters aus Böhmen, Italien und Deutschland auf die Herausforderung, für Violine „senza Basso“ zu komponieren, reagiert haben. Satztech- nisch bilden diese Werke eine Sondergrup- pe, denn ihr Ausgangspunkt ist die unbegleitete Einzellinie; sie verkörpern praktisch die absolute Linearität. Sowohl Harmonie als auch Mehrstimmig- keit vollziehen sich nur in Andeutungen und sind in starkem Umfang der Technik des jeweiligen Instruments unterworfen. Eine wichtige Eigenschaft dieser Kompositionen besteht darin, trotz vorwiegender Einstimmigkeit eine Hintergrundharmonie latent wirksam und hörbar zu machen. Abgesehen von den satztechnischen Schwierigkeiten eines Stückes „senza Basso“ spielt die Virtuosität in diesen Werken eine wichtige Rolle. So experi- mentierte man im 17. Jahrhundert mit Neuerungen beim Stimmen der Saiten (Skordatura), besonderen Bogentechniken, kontrapunktischen Texturen, ak- kordischemSpiel (mit der Entwicklung vonhochentwickeltenZwei-, Drei- und sogar Vierfach-Grifftechniken) und dem Spiel in sehr hohen Lagen. Die Solopartita Johann Sebastian Bachs in g-Moll, BWV 1013 war ursprüng- lich in a-Moll gesetzt und für Flöte komponiert. Ob es sich bei dem Stück al- lerdings tatsächlich um eine Originalkomposition für Flöte handelt, ist nicht erwiesen. Zweifel kommen beim Betrachten der Allemande und der Courante auf, die bei den schnellen Passagen kaumRaum für das Luftholen des Flötisten lassen. Ähnliches passiert allerdings auch in der Es-Dur-Sona- te, BWV 1031, wobei man sich bei diesem Werk sicher ist, dass es sich um ein Werk für Flöte handelt. Rachel Podger interpretiert die Partita BWV 1013 mit der Geige. Umdie volle Klangfülle ihres Instruments ausnutzen zu können, hat sie das Stück von a-Moll nach g-Moll transponiert. Hinsichtlich des „senza Basso“-Repertoires von GiuseppeAlessandro Ferruc- cio Tartini kommt den meisten wahrscheinlich seine bekannte „Teufelstriller- sonate“ in den Sinn. Rachel Podger hat sich jedoch für eine andere „senza Basso“-Komposition des in Piran (Istrien) geborenen Barockkomponisten und Violinisten entschieden: die Sonata in a-Moll (B: a3). Obwohl Giuseppe Tartini betonte, dass es immer seine Absicht war, diese Stücke ohne Bass zu spielen, da für ihn nur dann totale Freiheit herrschte, hat er in seinem Manuskript unter der Geigenlinie ab und an eine Basso-continuo-Stimme notiert. Nach der Pause folgt die Passacaglia vonHeinrich Ignaz Franz Biber, das letz- te Stück aus seinem wohl bekanntesten Werk, den Rosenkranzsonaten. Bei diesen handelt es sich um einen sechzehnteiligen Zyklus, der um 1676 kom- poniert wurde. In den Sonaten stellt Biber jedem Stück einen Kupferstich in Form eines Medaillons voran, der ein Ereignis aus dem Leben Marias und ihres Sohnes Christus abbildet. Biber entnahm diese Bilder einem Rosen- kranz-Bruderschaftsblatt. Die abschließende Passacagliawird von der Gravur eines Engels mit Kind begleitet. Das Bild des Schutzengels (engl.: „guardian angel“) inspirierte Rachel Podger zumTitel des heutigen Konzerts. Die Passa- caglia, eine Improvisation über einen sich ständig wiederholenden Bass von vier Noten, ist in den Rosenkranzsonaten in zweierlei Hinsicht etwas Beson- deres: Sie ist nicht nur das einzige Stück ohne Basso continuo, sondern auch wie die erste Sonate des Zyklus inNormalstimmung – ohne Skordatura. Letz- tere ist eine von der Norm abweichende Stimmung eines Saiteninstruments. Insgesamt verwendet Biber in seinen Rosenkranzsonaten vierzehn verschie- dene Violinstimmungen, weswegen das Werk eine einmalige Stellung in der Geschichte des Violinspiels einnimmt und Biber schon zu Lebzeiten als Vir- tuose galt. Bei nur wenigen Geigern und Komponisten vor seiner Zeit findet man so häufig Doppelgriffe, Dreier- und Viererakkorde. Biber beherrschte sogar das Violinspiel bis in die siebte Lage, was damals eine Seltenheit dar- stellte. Vor Kaiser Leopold I., der Biber 1690 in denAdelsstand erhob, gab die- ser bei seinem Gesuch zur Nobilitierung als Referenz an, dass er für den Kai- ser in Linz und Lambach mit „Violino soli“ Proben seines Könnens gegeben habe und sein Spiel demHerrscher „allergnädigst beliebt hatte“. Am Ende des Konzerts schließt sich der Kreis; es erklingt wie zu Beginn Jo- hann Sebastian Bach. Als letztes Stück hat Rachel Podger die Partita Nr. 2 für Solovioline in d-Moll, BWV 1004, gewählt. Spieltechnisch entrollt Bach hier einen Musterkatalog an Phrasierungs- und Grifftechniken. Die berühmte Chaconne mit ihren freien Variationen über eine mehrtaktige, wiederholte Bassfigur wird aufgrund ihrer Länge bei Auf- führungen oft aus der Partita herausgenom- men. Podger spielt aber die gesamte Partita und zeigt, dass doch alle Sätze Bestandteil einer zusammengehörigen Komposition sind. Vor allem die Chaconne entfaltet am Schluss durch die vorangehenden Allemande, Cor- rente, Sarabanda und Giga noch einmal eine vollkommen andere, intensivere Wirkung. © Christoph Punzmann, UR T AGE A LTER M usik R EGEnsbuRG M Ai 2015 13 J. S. Bach: Chaconne aus der d-Moll Partita P ROGRAMM J OHAnn s EbAsTiAn b ACH Solo-Partita g-Moll BWV 1013 (nach der (1685 – 1750) Partita a-Moll für Traversflöte) - Allemande - Corrente - Sarabanda - Bouree Anglaise G iusEPPE A LEssAnDRO f ERRuCCiO T ARTini Solosonate a-Moll (1692 – 1770) - Cantabile - Allegro - Allegro - Giga - Thema und Variationen PAUSE H EinRiCH i GnAz f RAnz VOn b ibER (1644 – 1704) Passacaglia („Schutzengel“) g-Moll aus den Rosenkranzsonaten J OHAnn s EbAsTiAn b ACH Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 - Allemanda - Corrente - Sarabanda - Giga - Chaconne Cover der CD “Guardian Angel” von Rachel Podger

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