Tage Alter Musik – Programmheft 2015

seien eher für einen „weltli- chen“ als für den päpstlichen Hof geeignet. Es wird ohnehin angenommen, die Sammlung könnte die offi- zielle Antwort auf die scharfe Kritik Giovanni Maria Artusis ( 1 5 4 0 - 1 6 1 3 ) sein, eines wich- tigen italieni- schen Literaten und Musiktheo- retikers, der in seinem Werk L‘ARTVSI ouero delle imperfettio- ni della moderna mvsica („Über die Fehler der modernen Musik“) in den Jahren 1600-1603 die neue Art der musikali- schen Komposition verpönte, indem er als Beispiel für „falsches“ Kompo- nieren Teile aus Claudio Monteverdis Madrigalen zitierte. Und in der Tat ist in dem Vorwort zum Druck von 1610 zu lesen: „quo […] & claudantur ora in Claudium loquentium iniqua“ („damit auch die ungerechten Mün- der derjenigen, die gegen Claudio gesprochen haben, geschlossen wer- den“). Der Druck von 1610 stellt also mit seinem ersten Teil im alten Stil (Messe) und seinem zweiten Teil immodernen Stil (Vesper und Sacri Con- centus) eine Verbindung zwischen der sogenannten prima und seconda pra- tica , der alten und neuen Kompositionstechnik, her. Darüber hinaus ver- muten einige Forscher, dass der Band eine Sammlung von Werken sei, die im Laufe von Monteverdis zwanzigjähriger Karriere am Mantuaner Hof komponiert wurden, eine Art „Summa“ seiner kompositorischen Tätig- keit bei den Gonzaga. Nicht nur die Entstehung, sondern auch die Zusammenstellung der Sammlung ist bis heute nicht geklärt. Wenn auch Denis Stevens bereits vor mehr als fünfzig Jahren hervorgehoben hat, laut der Überschrift auf dem Titelblatt des Druckes handle es sich um drei verschiedene Werk- gruppen (1. Missa ; 2. Vesperae ; 3. Sacri Concentus ), erscheinen die Kompo- sitionen jedoch in einer unerwarteten Reihenfolge: zunächst die Messe, der die Gesänge der Vesper und die Sacri Concentus alternierend folgen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Sacri Concentus zur Vesper gehören und möglicherweise für die Rolle der Antiphonen, die man zu den Psal- men während der Vesper in der Regel singt, von Monteverdi vorgesehen waren (bzw. vom Buchdrucker Amadino in diesem Sinne verstanden wur- den). Bis zum heutigen Tage werden jene geistlichen Gesänge von Ensembles in der Regel zusammen mit den Vespergesängen aufgeführt und unter der Bezeichnung „Marienvesper“ zusammengefasst, wie zahlreiche Aufnah- men und Konzertaufführungen bezeugen. Anlässlich der heutigen drei Konzerte mit Joshua Rifkin und Concerto Palatino hat man jedoch die Möglichkeit, die Werke der Sammlung von 1610 als eigenständige Kom- positionen wahrzunehmen. Um die Unabhängigkeit dieser Werke vonei- nander zu untermauern, werden sie in drei verschiedenen Konzerten an- geboten: Zunächst wird die Messe aufgeführt, danach die Sacri Concentus und schließlich die Vesper. Hinsichtlich der Aufführung der Werke sind folgende Hinweise notwen- dig. Joshua Rifkin bemerkt, dass die Zahl der partizipierenden Sänger und Instrumentalisten eigentlich eindeutig sei. Die allgemeine Tendenz sei jedoch, größere Besetzungen zu verwenden, vor allem was die Chöre angeht, obwohl es für diesen Einsatz nirgendwo schriftliche Belege gibt. Rifkin fasst die Zahl der Stimmen (sowohl der vokalen als auch der instru- mentalen) wörtlich auf: Da, wo zum Beispiel sechs Vokalstimmen angege- ben werden, werden tatsächlich sechs Sänger eingesetzt. Er hält sich streng an die in den Stimmbüchern enthaltenen Anweisungen und unab- hängig davon, was die „übliche“ moderne Praxis vorsieht, schließt er all das, was nicht vom Komponisten bzw. vom Buchdrucker Amadino ange- geben wurde, aus. Die Messe aus der Sammlung von 1610 ist die erste Messe, die Claudio Monteverdi vertonte. Nach ihr komponierte er nur noch zwei 4-stimmige „a cappella“-Messen, von denen die eine in der Sammlung Selva morale e spirituale (1640-1641) enthalten ist, die andere in einer postumen Samm- lung aus dem Jahr 1650. Wie die Überschrift im Druck informiert, wurde die Messe aus dem Druck von 1610 „sopra il motetto In illo tempore del Gomberti“ (zu deutsch: „über Gomberts Motette In illo tempore “) kompo- niert, d. h. die Motette In illo tempore loquente Iesu ad turbas des franko-flä- mischen Komponisten Nicolas Gombert (ca. 1495-ca. 1560) wurde als Vor- lage für die Komposition der Messe verwendet. Wir haben es hier also mit einem Phänomen zu tun, das von der Musikwissenschaft als „Parodiemes- se“ bezeichnet wird: Unter diesem Begriff versteht man ein Werk, das auf einer bereits vorhandenen weltlichen oder geistlichen Komposition (wie etwa einer Motette oder einer Chanson) basiert, deren einzelne Motive in die neue polyphone Textur eingefügt werden. Eine Besonderheit unter- scheidet allerdings Monteverdis Parodiemesse von vielen anderen existie- renden: Vor dem Kyrie amAnfang des Druckes erscheinen zehn „fughe“ – d. h. zehn thematische Einheiten – aus Gomberts Motette aufgelistet. Obwohl die Messe im strengen polyphonen Satz komponiert wurde, der auch einen Giovanni Maria Artusi hätte zufriedenstellen können, weisen doch manche Elemente auf bestimmte kompositorische Verfahren hin, die beim alten Stil verpönt waren. Die fünf Werke, die im Druck von 1610 als Sacri Concentus nach jedem Vesperpsalm erscheinen – Nigra sum, Pulchra es, Duo Seraphim, Audi coelum und die Sonata sopra Sancta Maria Ora pro nobis –, sind die Kompositionen, die in diesem Druck die Auswirkung der neueren, zunächst in der weltli- chen Musik begründeten Stilrichtungen aufweisen. Bei den ersten vier Stücken handelt es sich um ein- bis dreistimmige Motetten mit Basso con- tinuo (nur Audi coelum wird am Ende sechsstimmig), deren Themen zwar nicht liturgisch, aber geistlich sind. Dass Monteverdi bereits große Erfah- rung im Bereich der Madrigal- und Theaterkomposition gesammelt hatte, ist nicht zu überhören – vergessen wir nicht, dass die Komposition von L‘Orfeo nur wenige Jahre zurückliegt. Duo Seraphim nimmt aufgrund der großzügigen Verwendung von Merk- malen, die auf den weltlichen musikalischen Bereich zurückzuführen sind, eine Sonderstellung innerhalb der Werkgruppe ein: Die Wort- und Zahlensymbolik (auch in Nigra sum zu finden), die hohe Virtuosität des Gesangs, der Duettstil mit alternierenden Koloraturen und die Sequenzen mit ausdrucksvollen Vorhaltdissonanzen sind hier klar erkennbar. Bei den übrigen Werken finden sich ebenfalls Elemente, die dem weltlichen Be- reich entnommen wurden: Aus der Pastoraltradition stammt z. B. das Echo, das in Audi coelum zu hören ist. Monteverdis Textwahl mag manch- mal überraschen: Nigra sum und Pulchra es sind zwei aus dem Hohelied ( Canticum Salomonis ) stammende Liebestexte, die sich nur allegorisch auf die Jungfrau Maria beziehen. Beide Motetten sind im reinen Rezitativstil komponiert. Zu den Sacri Concentus gehört schließlich ein instrumentales Stück, die Sonata sopra Sancta Maria Ora pro nobis, die die Funktion hat, die Litanei Sancta Maria, ora pro nobis, welche elfmal von einer Stimme gesun- gen wird, reichlich zu schmücken. Hinsichtlich der Form, des Rhythmus und der Besetzung erinnert die Sonata an venezianische Kompositionen, wie z. B. die Instrumentalcanzonen von Giovanni Gabrieli (1557-1612). Das dritte Konzert besteht, wie bereits erwähnt, aus den liturgisch festge- legten Vesperkompositionen, die im Druck von 1610 enthalten sind: dem Einleitungsversikel Domine ad adjuvandum , den Psalmen Dixit Dominus (Ps. 110 – nach der jüngeren Nummerierung), Laudate pueri (Ps. 113), Laetatus sum (Ps. 122), Nisi Dominus (Ps. 127), Lauda Jerusalem (Ps. 147), demHymnus Ave maris stella und dem Magnificat . In diesen Kompositionen treffen alter und neuer Stil zusammen, traditionelle und moderne Techniken, die die Einzigartigkeit und die Größe der Kunst Claudio Monteverdis beweisen. T AGE A LTER M usik R EGEnsbuRG M Ai 2015 28 Claudio Monteverdi

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