Tage Alter Musik – Programmheft 2015

T AGE A LTER M usik R EGEnsbuRG M Ai 2015 Laurence Dreyfus, Diskant- und Bassgambist und künstlerischer Leiter des Gamben-Consorts Phantasm, wurde in Boston geboren. Neben sei- nem Cellostudium bei Leonard Rose an der Juilliard School in New York beschäftigte er sich mit Musikwissenschaft und Politologie, wandte sich jedoch nach seinem Abschluss bald der Viola da gamba zu und studierte bei Wieland Kuijken am Königlichen Konservatorium in Brüssel, wo ihm das Diplome supérieur mit höchster Auszeichnung verliehen wurde. Unter seinen zahlreichen Solo-CD-Einspielungen für Labels wie Decca, Philips, Linn Records, Christophorus, Simax Classics oder Channel Clas- sics finden sich Bachs Gambensonaten (mit Ketil Haugsand, Cembalo) ebenso wie Marin Marais‘ Pièces de violes und Rameaus Pièces de clave- cin en concert; außerdem nahm er mit Sylvia McNair und Christopher Hogwood ein Grammy-prämiertes Album von Purcell-Songs sowie mit Christophe Rousset Purcells Harmonia Sacra auf. Als international angesehener Musikwissenschaftler veröffentlichte Lau- rence Dreyfus unzählige Fachartikel und mehrere Bücher, unter anderem „Bach‘s Continuo Group“ und „Bach and the Patterns of Invention“ (Har- vard, 1987 und 1996). Dreyfus lehrte an der Yale University, der University of Chicago, Stanford University und der Royal Academy of Music in London, bevor er im Jahr 1995 auf die Thurston-Dart-Professur an das King’s College London beru- fen wurde. Im Jahr 2002 wurde er zum Fellow der British Academy er- nannt und seit 2005 lehrt er an der University of Oxford und dem dortigen Magdalen College, wo er 2006 zum Professor ernannt wurde. Daneben wird er immer wieder als Juror internationaler Musikwettbe- werbe eingeladen, beispielsweise zum Leipziger Bach-Wettbewerb oder dem Bach Prize of the Royal Academy of Music, London. zum Programm: 150 Jahre überraschungen im englischen kontrapunkt kontrapunktik in England von Christopher Tye bis Henry Purcell Man kann den englischen Komponisten des 16. und 17. Jahrhunderts ihre Kontrapunkt-Besessenheit nicht hoch genug anrechnen, da sie zu einem außergewöhnlich reichhaltigen und schrulligen Repertoire prachtvollster Instrumentalmusik führte. Jenseits liturgischer Funktion und direkter kle- rikaler Kontrolle ergründeten diese Musiker die instrumentalen Genres als Spielwiese für ihre oft fruchtbarsten kompositorischen Experimente. Und in diesen gingen sie nicht nur weit über das hinaus, was seinerzeit noch als singbar galt - indem sie etwa Tanz- oder volksmusikalische Ele- mente einbauten -, sondern sie spielten auch hemmungslos mit den Prin- zipien von Konsonanz und Dissonanz, favorisierten pikante Ton-gegen- Ton-Kollisionen und Schlusskadenzen, die durch wuchernde falsche Fort- schreitungen und bewusst eingesetzte modale Mehrdeutigkeit charakteri- siert sind. Stellt man diese Werke nun nebeneinander, sieht man deutlich, dass die Komponisten miteinander wetteiferten, sich gegenseitig zitierten, alte Meister studierten und geradezu wollüstig darin schwelgten, auszupro- bieren, inwieweit sich die kontrapunktischen Regeln der Instrumentalmu- sik sprengen ließen. Dabei entstand eine bemerkenswerte Art von Poly- phonie, die mit nichts von dem zu vergleichen ist, was gleichzeitig auf dem Kontinent vor sich ging. So dicht, wie die exzentrischen Auslassungen Christopher Tyes bisweilen unter der Oberfläche seiner Musik schwelen, kann man wohl davon aus- gehen, dass sie ein direkter Ausdruck seiner Persönlichkeit waren. Und obwohl seine Fähigkeiten seinerzeit ohne Zweifel recht anerkannt waren - etwa durch einen Doktorgrad in Musik der Universität Cambridge im Jahr 1547 -, provozierten die sehr speziellen harmonischen Experimente seiner Instrumentalmusik doch so manch erhobene Augenbraue. Antho- ny à Wood etwa berichtet in einer Anekdote: „Dr. Tye war ein reizbarer und launischer Mann, insbesondere in seinen letzten Jahren, der gelegent- lich in der Kapelle Queen Elizabeths Orgel spielte, wobei er viel Musik, aber wenig Erbauung für das Ohr erzeugte. Einst sandte die Queen den Kirchendiener zu ihm, um ihm zu sagen, dass sein Spiel unsauber sei - worauf er ausrichten ließ, dass es ihre Ohren wären, die unsauber seien“. Die Consort-Musik des 17. Jahrhunderts ist nicht weniger reich an kontra- punktischem Know-how und kompositorischer Fantasie. Orlando Gib- bons schrieb dasjenige In nomine, welches als das wohl prachtvollste sei- ner Art gelten darf, das jemals komponiert wurde. Darin kreist er hartnä- ckig um eine Lamento-Figur, bis er schließlich einen ekstatischen, wenn auch letztendlich unmöglichen Aufstieg in Angriff nimmt. So gelingt es Gibbons hier, eine Art reflektiver Trauer mit einer verzückten Spiritualität zu kombinieren, wie sie in der Musikliteratur bis dahin noch unbekannt 43 Laurence Dreyfus Gambenfamilie

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