Tage Alter Musik – Programmheft 2016

31 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 besondere in seinen italienischen Madrigalen, von denen La Compagnia del Madrigale heute eine repräsentative Auswahl präsentiert, aber auch in seinem geistlichen Œuvre versucht gesualdo, durch den gezielten ein- satz von zum Teil radikalen musikalischen Mitteln den Text in Tonsprache umzusetzen und dem Zuhörer „vor Augen zu führen“. Zu gesualdos Lebzeiten erschienen insgesamt sechs Madrigalbücher für fünf Stimmen (von einem 1626 postum erschienenen siebten Buch ist nur eine Stimme überliefert, sodass eine Rekonstruktion unmöglich ist). Die ersten vier Bücher wurden zwischen 1594 und 1596 gedruckt, als gesualdo mit seiner zweiten ehefrau, Leonora d’este, in Ferrara lebte. In dieser kul- turell florierenden Stadt begegnete er namhaften Kollegen wie etwa Luz- zasco Luzzaschi (um 1545–1607), dessen virtuose Madrigale einen wesent- lichen einfluss auf gesualdo ausübten. Das fünfte und sechste Madrigal- buch erschienen 1611, zwei Jahre vor seinem Tod, als gesualdo sich auf sein Landgut zurückgezogen hatte. In den ersten beiden Büchern dominiert ein relativ leichter Stil, den gesu- aldo später fast apologetisch als „quel primo stile“ bezeichnen sollte. Mit Baci soavi e cari , das 1594 im Primo libro veröffentlicht wurde, vertonte er ein gedicht von giovanni Battista guarini (1538–1612) – nur sieben Jahre zuvor hatte kein geringerer als Claudio Monteverdi diesen Text in seinem – ebenfalls ersten – Madrigalbuch vertont. Das Werk beginnt mit einem homophonen gestus, in dem die „süßen und lieblichen Küsse“ als Lebens- elixier gepriesen werden. Die akkordische Deklamation geht dann in eine imitative Passage über, bei der zwei Textabschnitte („come un’alma rapita“ und „Non sente il duol di morte“) zum Teil gleichzeitig erklingen. Das ständige Changieren zwischen homophonen und fugierenden Stellen sollte gesualdo auch in seinen weiteren Madrigalbüchern als formales Prinzip beibehalten. Mit dem 1595 gedruckten dritten Madrigalbuch wird der Ton von gesualdos Madrigalen allmählich düsterer und komplexer. Seine Musik wird in jeder Hinsicht immer extremer, sei es im Umgang mit Dissonanzen oder durch den einsatz von Chromatik. Interessanterweise sind für die Bücher drei bis sechs kaum Textdichter bekannt. Könnte gesualdo die Texte selber verfasst haben, um so ein Maximum an expressivität zu erreichen? Nicht umsonst dominieren hier gefühle wie Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit oder Themen wie Leiden und Tod. Und nicht umsonst verglich Alessandro gua- rini in seiner Schrift Farnetico savio (Ferrara, 1610) gesualdo mit dem berühmten Dichter Dante Alighieri, da er in Übereinstimmung mit dem Text „weder Rauheit scheut noch Dissonanzen meidet“ und keine Angst davor hat, „harte, ungewöhnliche und fremde Klänge“ zu verwenden. Das 1595 im dritten Madrigalbuch erschienene Donna se m’ancidete ist durchaus kennzeichnend für diese Tendenz. gleich amAnfang nutzt gesu- aldo den im Text geäußerten Kontrast zwischen Tod und Leben („donna se m’ancidete, la mia vita […]“) zu einer gegenüberstellung langer und kurzer Notenwerte. Und auch ein wenig später begegnet uns der gegensatz als Stilmittel. Diesmal betont gesualdo den Kontrast mit melodischen Mitteln: Während die Sopranstimme einen aufsteigenden Sextsprung bei „la mia vita“ singt, wählt er für „la mia morte“ abstei- gende Intervalle – im Alt und im Sopran ist sogar ein Septimsprung zu hören. Durchaus typisch für gesualdos Umgang mit dem Text ist weiterhin das „cangiando sorte“. Das „sich ändernde Schick- sal“ interpretiert er nicht nur durch den ständigen Wechsel zwischen e und es, sondern auch durch subtile melodische Variationen ein und desselben Motivs. Auch in Or che in gioia credea viver contento aus dem vierten Madrigal- buch ist es ein gegensatz – die Freude und das Leid der Liebe –, der Anlass zu einer kontrastreichen Komposition bietet: Kurze Noten- werte und melodische (Freuden)sprünge bei „nella gioia non men“ werden bei „che nel dolore“ mit reibenden Dissonanzen und Querständen pariert. Besonders frappant sind am ende der prima parte die chromatisch abstei- genden Linien für den Ausruf „oimè“ (im Sopran sogar von e“ bis a‘), die den Schmerz zum Ausdruck bringen. Im sechsten Madrigalbuch bildet eine Reihe von leichteren Madrigalen – wie etwa Volan quasi farfalle, Al mio gioir il ciel si fa sereno und Quando ridente e bella – eine willkommene Abwechslung zum überwiegend düsteren Charakter der Sammlung. Tatsächlich erschöpft gesualdo in diesem Buch die grenzen der expressivität. Allein schon der Anfang von Madrigalen wie Se la mia morte brami, Ancide sol la morte und Moro lasso, al mio duolo ist im wahrsten Sinne des Wortes „unerhört“. Durch die radikale Chromatik führt die Musik Titelblatt sechstes Madrigalbuch, Cantus Giovanni Balducci, Altartafel mit der Vergebung, 1609 (Detail) – Carlo Gesualdo, von San Carlo Borromeo unterstützt, erhält die Vergebung seiner Sünden. Chiesa di Santa Maria delle Grazie Gesualdo da Venosa Or, che in gioia, Tenorstimme, 4. Madrigalbuch 1596

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