Tage Alter Musik – Programmheft 2016

36 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 Betrachtung jedoch eben diesen Tanzarten zuzuordnen sind. Viele dieser Werke werden mit englischen, lateinischen, italienischen und sogar spani- schen Titeln bezeichnet, von denen einige sehr suggestiv sind (The Funeralls, Infernum, Paradizo, The image of Melancholly, The Fruit of Love, Hermoza); andere sind weniger präzise (ecce quam Bonum, The Choice, Nec Invidio). Imgroßen und ganzen kommen in der Reihenfolge des Ban- des zuerst die Pavanen, von denen die meisten mit galliarden kombiniert sind, wobei diese Stücke größtenteils in Zweiergruppen zusammengestellt und in derselben Tonart geschrieben sind. Von den insgesamt 65 Stücken sind 53 Pavanen und galliarden, deren letztes Paar Last will and testament pavan & galliard ist. Die letzten elf Stücke sind vor allemAllemanden (oder Stücke mit binärem Rhythmus, die diesem Tanz ähneln) sowie einige ter- näre Stücke. Offensichtlich ist, dass Holborne aufgrund der beschränkten Anzahl der Stücke nicht über genügend verschiedene Tänze verfügt, um komplette Suiten zu bilden, die Pavanen, gaillarden, Allemanden undAeirs beinhalten. Alles in allem ist der Band der Lachrimae or seven Tears , den John Dowland einige Jahre später veröffentlichte, im selben geist konzipiert. es ist übrigens amüsant festzustellen, dass das eingangsmotiv von Holbornes Pavana Ploravit dasselbe ist wie das der ersten der Lachrimae Pavans von Dowland! Sollte es sich um eine diskrete Hommage Dowlands an Holborne handeln? Schließlich bestätigt der Reichtum des fünfstimmigen Satzes die rein instrumentale Bestimmung dieser Stücke sowie ihre Distanz gegenüber der Tanzpraxis; die Charaktere und die Tempi dieser Tänze müssen den Interpreten allerdings zumindest im geist präsent gewesen sein! Was die Instrumentierung dieser Stücke betrifft, so legt die Titelseite Holbornes sie explizit fest: Sie gibt ausdrücklich der Reihe nach gamben, geigen und verschiedene Blasinstrumente an. Auch in Dowlands Band werden die gamben und die geigen genannt. Wie sind diese Informa- tionen aber zu interpretieren? es scheint offensichtlich, dass das „Consort of viols" das typischste ensemble der englischen Instru- mentalmusik war, das in diesem Land auch als engster Partner der Vokalensembles galt, was die in Madrigalsammlungen zu findende Angabe ,,apt for Viols and voices“ beweist. Dennoch hielten, wie man weiß, mit der Ankunft italienischer Musiker – z. B. der Lupos bereits während der Herrschaft Heinrichs VIII. - auch die geigen einzug in das englische Musikleben. Doch wurden sie nicht, wie bestimmte Bildquellen bezeugen, schon frü- her öfter zur Begleitung von Tänzern eingesetzt? erst später, d. h. im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, wurden sie zu manchen seltenen gelegen- heiten bei reinen Instrumentalstücken - wie etwa bei den Fantasien – erwähnt. Was die Blasinstrumente betrifft, so ist ihre Verwendung ebenfalls ab der Regierungszeit Heinrichs VIII. belegt, wobei eine gewisse Vielfalt festzustellen ist (Flöten, Schalmeien, Tournebouts, Zinken und Posaunen). Wie auf dem Kontinent bestanden die städtischen Musikerensembles (die Waits ) aus gemischten gruppierungen, in denen sowohl Instrumente mit Metall-Mundstück als auch Rohrblattinstrumente vertreten waren. Natür- lich konnte man auch damit diese Stücke spielen. Doch sind sie für die harmonische Feinheit der Pavanen und die rhythmische Nuanciertheit der galliarden gut geeignet? Sollte man in dieser instrumentalen Alternative nicht vor allem eine einfache publizistische und kommerzielle Angabe sehen, die dazu diente, verschiedene Arten von Musikern davon zu über- zeugen, diese Notenbücher zu kaufen? Im Titel des Bandes werden dagegen keine polyphonen Instrumente erwähnt, obwohl ihre Verwendung für diese Art von Repertoire durchaus belegt scheint. einige der Stücke gibt es übrigens in Fassungen für Cister in The Cittarn Schoole oder für Laute in verschiedenen Handschriften, und die Tatsache, dass Holborne selbst ein Virtuose auf der Laute, der Cister und der Bandura war, konnte die Interpreten nur ermuntern, diese Instru- mente zum „Consort of viols“ hinzuzufügen. Um nochmals auf die Lachri- mae von Dowland zurückzukommen, so ist zu sagen, dass dieser Band eine echte Lautenstimme enthält, der in gewisser Hinsicht das Spiel mit der harmonischen Kompositionsstruktur durch einige ornamentale Figu- ren anvertraut wird. eine andere Spur dieser gepflogenheit, die Instru- mente zu kombinieren, ist der Band, den Thomas Morley genau im selben Jahr 1599 herausgab (The first book of Consort Lessons) : es handelt sich um die erste Veröffentlichung von Stücken für ein anderes typisch englisches ensemble, das „Broken consort“ , das aus einer Diskantgambe (oder einer Violine), einer Bassgambe, einer Flöte und drei Zupfinstrumenten, einer Laute, einer Cister und einer Bandura bestand, also aus genau den Instru- menten, die Holborne spielte. Die Laute wurde vor allem dazu eingesetzt, die Diminutionen zu spielen, die Cister sollte die rhythmischen Schläge betonen und die Bandura eine Art Basso continuo spielen. Übrigens ist erwähnenswert, dass einige Stücke aus Holbornes Band in den Lessons for Consort (1609) von Philip Rosseter als Bearbeitungen für das Broken consort veröffentlicht wurden. Schließlich ist aber auch in verschiedenen Quellen, von denen einige Bildquellen sind, die Verwendung von Tasteninstrumen- ten innerhalb dieser Zusammenstellung von Instrumenten nachgewiesen. Holborne selbst hielt sich als Diplomat in den Niederlanden auf, doch auch seine Musik überschritt rasch die grenzen; so sind einige seiner Stü- cke in einer 1607 in Hamburg veröffentlichten Anthologie für Instrumen- Anthony Holborne: Titelblatt der Cister Schule Anthony Holborne scheint regelmäßig in Künstlerkreisen verkehrt zu haben, besonders in denen der Dichter, die um Mary Sidney, der Coun- tess of Pembroke, kreisten. Stehen einige seiner Stücke direkt mit ihr in Verbindung (Paradizo wurde nach dem gedicht „Arcadia“ ihres Bru- ders Philip Sidney komponiert, The Funeralls zum Tod der eltern und des Bruders der gräfin), so sind andere Titel geheimnisvoller: Die Pavane Bona Speranza, mit der der Sammelband beginnt, spielt viel- leicht auf das Kap der guten Hoffnung an, das einer der vielen Stütz- punkte von Francis Drake war, dem damaligen general der elisabetha- nischen Flotte, und verleiht dem Werk von Anfang an ein Flair von Reise, Ferne und eroberungen. Diese exotik findet sich bei anderen Stü- cken mit kastilischen Titeln wieder, wie etwa bei Hermoza und Muy Linda, und das in einer Zeit, in der die Beziehungen zwischen Spanien und england besonders angespannt waren: Man kann sich dabei vor- stellen, dass es sich um eine ironische Anspielung Holbornes auf die Siege elisabeths über Philipp II. von Spanien handelt, doch ist es auch möglich, darin einen Lobgesang auf die Schönheit einer Frau zu sehen, natürlich auf elisabeth, auf Mary Sidney oder wer weiß auf wen… Wer ist diese Fruit of Love? Wem widmete Holborne sein Honey-Suckle, ein geißblatt, das ewige Treue symbolisiert? Was schildert Image of Melancholly? Welches Vermächtnis meinte Holborne in Last Will and Testament? Und warum weinen die Musen? Die poetische Dimension der Musik Anthony Holbornes ist im engli- schen Instrumentalrepertoire etwas Außergewöhnliches, und diese Tänze bieten unserer Phantasie die Möglichkeit, jeden davon unserem geschmack und unserer geschichte gemäß zu interpretieren, da jedes Thema oder Symbol verschiedene Bedeutungen in sich birgt und jed- wede Musik uns frei träumen lässt. © François Joubert-Caillet D IE B EGEGnUnG ZWISCHEn M USIK , T AnZ UnD P OESIE

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