Tage Alter Musik – Programmheft 2016

47 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 ernsthafte ästhetische Debatte über dieAusdrucksmöglichkeiten der Instrumen- talmusik: taugt eine Kunst etwas, die alles nur im Vagen belässt und niemals zur Klarheit und Deutlichkeit begrifflicherAusdrücke der Wortsprache vorstößt? Diese Frage mag heute seltsam erscheinen, da ja die Meinung verbreitet ist, dass gerade die eigentümliche Unbestimmtheit der Instrumentalmusik dieser Musik die Fähigkeit verleiht, eine „Universalsprache der Menschheit“ zu sein. Aber zu Bachs Zeit war dieser gedanke nicht gängig, und kein geringerer als Jean Jacques Rousseau schrieb 1768 in seinem „Dictionnaire de Musique“ die fol- genden Sätze: „Um verstehen zu können, was all die Unmengen von Sonaten, mit denen wir überschüttet werden, eigentlich sagen wollen, müsste man es machen, wie jener schlechte Maler, der gezwungen war, unter seine Figuren zu schreiben: 'Das ist ein Mann', 'Das ist ein Baum', 'Das ist ein Ochse'“. Hat nicht Bach – im Übrigen 20 Jahre vor Rousseaus Lexikon – genau diese lächerliche Technik angewandt? Ja und nein. Sicher hat er es gemacht, aber der Versuch, die Sonate zu hören, wenn man sklavisch alle zwei Takte eine neueAnmerkung liest, die die Musik angeblich „erklärt“, ist zum Scheitern verurteilt. Man kann gar nicht so schnell lesen, wie die Musik voranschreitet, deren Sinn man bald gänzlich aus Auge und Ohr verliert. Was Bach zeigt, ist eigentlich das gegenteil: Instrumentalmusik kann Charaktere zeichnen – den Sanguineus und denMelan- cholicus –, aber sie kann nicht dieArgumentation eines gesprächs „verständlich“ nachzeichnen. Und sie soll es auch nicht tun! Bach selbst – dessen konkrete Moti- vation für dieses Werk übrigens unbekannt ist – schreibt warnend: „Man ver- bittet zumVoraus, alle Spöttereyen, wenn man für nöthig findet, denenjenigen, welche noch nicht genugsame einsicht in die musicalischenAusdrücke besitzen, zu gefallen, einige Anmerkungen über alle vorkommende Hauptstellen der ersten zweyen Sätze dieses Trio, hinzu zu fügen.“ Das heißt doch, dass Bach die Instrumentalmusik eigentlich für „selbsterklärend“ hält unter der Voraus- setzung, dass der Hörer über eine gewisse Vorbildung verfügt, die es ihm erlaubt, musikalische gesten im Sinne von sprachlichenAusdrucksgesten, aber nicht als konkreten Wortlaut zu „verstehen“. Die Beigabe einer konkreten ver- balen explikation ist gemeint als eine Krücke für die Schwachen, und sie könnte so, wie Bach sie angibt, auch vom besten Bachkenner niemals identisch aus sei- nem Stück herausgehört werden. Was also sollen wir beimHören dieser Triosonate tun? Wir dürfen uns in unse- rem Kopfkino zwei gegensätzliche Charaktere vorstellen, die sich „einigen“ wollen. Dies geschieht in Rede undWiderrede. Die explizite Nennung der Char- aktere durch Bach selbst legitimiert unseren Film, und zudem erklärt sie die wunderliche Beobachtung, dass in diesemWerk etwas formal ganz Unübliches geschieht, nämlich die Konfrontation zweier komplett gegensätzlich gestalteter Violinparte in einer Triosonate. Für das adäquate Hören dieses faszinierenden Stückes kommt es allein auf das erfassen des gesprächsverlaufs an, auf das Treffen der von Bach verbal geschilderten Situation, aber nicht auf ein erraten der Worte selbst oder auf die penible Rückübertragung dieser Worte auf die Musik. Wie albern dies wäre, mögen die beispielhaft zitierten Worte zeigen: „[ii] Hierauf fängt alsobald der Melancholicus an zu brummen und läßt sich durch lauter tiefsinnige Vorträge wieder hören. Hierüber [kk] spielet und tändelt der Sanguineus. Dieses beides geht teils wechselweise, teils zusammen so fort, bis der Sanguineus, da er sieht, daß dadurch nichts herauskommt, [ll] sich aufs Bitten zu legen anfängt, um den andern auf seine Seite zu bewegen“. Murren, tändeln, abwechseln, bitten: das lässt sich hören, aber sozusagen im Sinne all- gemein-musikalischer Charaktere, nicht im Sinne eines Librettos, das über die Bühne projiziert wird. Lächerlich ist nicht die Instrumentalmusik, sondern lächerlich ist Rousseaus Versuch, ihr „allgemein-charakterisierendes“ Wesen lächerlich zu machen. Wer diese Art der Charakteristik nicht ertragen kann, der soll eben Lieder anhören. Oder Romane lesen oder gar verfassen. Wahrscheinlich hätte sich Rousseau über die Werke, die das Programm aus Bachs Wundertüte hervorgezaubert hat, geärgert oder wenigstens gewundert. Aber es gibt vielleicht in manchen Berei- chen doch einen Fortschritt der Ansichten: um wieviel ärmer wäre diese arme Welt ohne das Wunder der Instrumentalmusik – einWunder, zu dem auch Carl Philipp emanuel Bach Wesentliches beigetragen hat. © Wolfgang Horn, UR C ARL P HILIPP E MAnUEL B ACH (1714-1788): S OnATE , S InFOnIE , K OnZERT Konzert a-Moll für Violoncello und Orchester Wq. 170 (H. 432) Allegro assai – Andante – Allegro assai Sinfonie Nr. 5 h-Moll Wq. 182 (H. 661) Allegretto – Larghetto – Presto PAUSe Triosonate c-Moll „Gespräch zwischen einem Sanguineus & einem Melancholicus“ für zwei Violinen und Basso continuo Wq. 161 (H. 579) Allegretto/ Presto – Adagio – Allegro Konzert A-Dur für Violoncello und Orchester Wq. 172 (H. 439) Allegro – Largo – Allegro assai Mit freundlicher Unterstützung des Bureau Export de la Musique Française Wir danken der Meisterwerkstätte für historische Tasteninstrumente Christoph Kern, 79291 Staufen für die freundliche Bereitstellung des Hammerflügels. Konzerteinführung: Prof. Dr. Wolfgang Horn, 19.00 Uhr Vortragsraum im „Haus der Begegnung“ der Universität Regensburg, Hinter der Grieb 8 Eintritt frei! Sendung BR: 27.06.2016, 18.05 Uhr (Festspielzeit auf BR-KLASSIK) Sendung Deutschlandfunk: 01.08.2016, 21.05 (Musik-Panorama) P ROGRAMM P ULCInELLA O RCHESTRA Thibault noally Konzertmeister David Chivers, Charlotte Grattard, Anastasia Shapoval Violine I nicolas Mazzoleni, Marieke Bouche, Alexandrine Caravassilis, Jean-Marc Haddad Violine II Pierre Vallet, Delphine Millour Viola Claire Gratton Violoncello élodie Peudepièce Kontrabass Francesco Corti Fortepiano A USFüHREnDE Carl Philipp Emanuel Bach gemalt von Johann Philipp Bach 1773 Grabplatte von Carl Philipp Emanuel Bach

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