Tage Alter Musik – Programmheft 2016

49 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 entsprechenden Weise ausgelegt wurden, und geistliche Themen von hoher Bedeutung konnten in den verschiedensten weltlichen Kontexten gedeutet werden, ja sie konnten zuweilen sogar in diesen Kontexten im Wortsinne „profa- niert“ und travestiert werden. Ins- besondere in der Musik können wir diese Verwirbelung von Reli- giösem und Nicht-Religiösem in zahllosen Varianten beobachten. Am deutlichsten wird dies viel- leicht sichtbar in der im 15. und 16. Jahrhundert üblichen Praxis, poly- phone Messen auf der Basis von Vorlagen zu komponieren, die aus der höfischen Liebeslyrik stamm- ten. Soweit ist dies alles wohlbekannt. Aber auch noch im Jahre 2016 ist es eine Seltenheit, wenn in einem Konzert mit Musik des 15. Jahr- hunderts eine Messen-Vertonung - die formal am stärksten regulierte Kompositionsgattung dieser Zeit - mit Stücken kombiniert wird, in deren Mittelpunkt die gepriesene, aber unerreichbare Dame von hohem Rang steht. Irgendetwas an dieser Verbindung mag uns unziemlich erscheinen - wohl deshalb, weil für uns Menschen der Moderne das Weltliche und das geistliche strikt getrennte Bereiche bilden, die bei einer zu starken Annäherung womöglich Schaden an ihrer Identität erleiden. Im heutigen Konzert gehen wir dieses Risiko ein in der Annahme, dass die Hörerinnen und Hörer des späten Mittelalters und der Renaissance es nicht nur hingenommen, sondern ihre Freude daran gehabt hätten, über die Wechselwirkungen von Kompositionen auf französische und auf latei- nische Texte nachzudenken. Wir sind zudem der Ansicht, dass die besten Werke dieser Zeit tief, ja leiden- schaftlich empfunden und kompo- niert sind und deshalb auch einen ausdrucksstarken und leiden- schaftlichen Vortragsstil erfordern. Sogar bei der Aufführung einer Messen-Vertonung werden wir von der unleugbaren energie und Vitalität der Musik erfasst. Das Motto unseres Konzerts, „My Fair Lady“, bezieht sich auf die außergewöhnliche Verehrung der Jungfrau Maria, die wir in dieser epoche vorfinden. In einigen Stü- cken des Programms - den Motet- ten von Josquin Desprez und der Messe von guillaume Du Fay - wird Maria direkt und ausdrück- lich angesprochen. In den franzö- sischen Chansons dagegen, die zwischen diese geistlichen Stücke wie Farbtupfer eingefügt sind, wird die Jungfrau Maria nirgends erwähnt. Imgegenteil: die meisten dieser Liebeslieder wenden sich an eine unerreichbare Dame als dem Ziel einer idealisierten Art höfi- scher Liebe. Dennoch ist es nicht widersinnig, wenn man die Jungfrau an die Stelle der Dame setzt, die in Ockeghems Chanson Aultre Venus eine „andere“, d. h. eine „zweite Venus“ genannt wird. es ist sogar möglich, eine geist- liche Interpretation auf die unerreichbaren Damen zu übertragen, die uns in den Chansons von Antoine Busnoys begegnen - auf eine Dame, die „aufgehört hat, mich [d. h. das lyrische Ich] zu lieben“ ( Je m'esbaïs de vous ), auf eine andere Dame, die „furchterregend“ ist und einen - zumindest metaphorischen - Tod bringt, weil sie dem Verehrer ihre Zuneigung ent- zieht ( Terrible dame ), und sogar auf eine Dame, mit der das lyrische Ich einen Handel abschließen möchte: „Wenn du mir mehr gutes tust, / als du derzeit tust, / dann kannst Du Dir meiner Dienstfertigkeit so sicher sein, / das niemand deren Maß wird in Worte fassen können“ ( Quant vous me ferez ). es ist gut möglich, dass Hörerinnen und Hörer des 15. Jahrhun- derts die Jungfrau Maria in diese Lieder hineininterpretieren konnten, und ebensogut ist es möglich, dass sie zumNachdenken über ihre eigenen weltlichen Liebesdinge angespornt wurden, wenn sie während eines Hochamts mit idealisierten Darstellungen der Jungfrau Maria in Berüh- rung kamen. Virgo prudentissima Josquins dichte Vertonung dieses Textes, der vom Hohen Lied Salomonis angeregt ist, formuliert das Thema des heutigen Konzerts mit seiner Schlusszeile "leuchtend wie der Mond, strahlend wie die Sonne" („pulchra ut luna, electa ut sol“). Man beachte insbesondere, dass der Schluss des Stückes gewissermaßen ein Wortspiel ist: Josquin gewinnt hier im gefolge einer konventionellen Praxis aus den lateinischen Wörtern „ut“ und „sol“, die zugleich als sogenannte Solmisationssilben fungieren, die Töne g („ut“) und D („sol“ im hexachordum durum) in den drei Unterstimmen und vor allem im Bass. Je m'esbaïs de vous Das elegante Rondeau von Busnoys zeigt ein höfisches Liebesgedicht des 15. Jahrhunderts im Stadium seiner höchsten Blüte. Die geschmeidige Melodie, die in der Oberstimme liegt, bewegt sich graziös durch das gedicht, wobei am ende jedes Verses eine Kadenz erreicht wird, ohne dass dadurch der Melodiefluss beeinträchtigt würde. In einigen Abschnitten koordiniert Busnoys die Stimmen in verblüffender Weise, so bei demWort „mainctenez“ („festhalten“) und seinen Wiederholungen, wo die oberen Stimmen gemeinsam zu ihren jeweils höchsten Noten aufsteigen. Jesse Rodin DuFay und Binchois Der Chor singt das „Gloria“, Leitung Johannes Ockeghem

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=