Tage Alter Musik – Programmheft 2016

50 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 Quant vous me ferez Die textlich-musikalische Form des „Rondeau“ gehört (neben „Ballade“ und „Virelai“) zu den sogenannten „formes fixes“ der französischen Lyrik vom Spätmittelalter bis ins 15. Jahrhundert. ein Rondeau - und damit auch jedes Rondeau unseres Konzerts - folgt dem Schema AB aAab AB. A/a und B/b bezeichnen die beiden musikalischen Teile des Rondeau, wobei an den Stellen A und B nicht nur der jeweilige musikalische Teil, sondern auch derselbe Text wiederholt wird (A und B sind deshalb im engeren Sinn des Wortes „Refrains“), während bei a und b die bekannte Musik mit neuem Text verbunden wird. Dieses Schema weist zwei charakteristische, eng miteinander verbundene eigenheiten im Verlauf auf. Zum einen muss man nach dem einleitenden erklingen des gesamten Refrains (AB) lange warten, bevor die Musik des b-Teils wieder zu hören ist, denn dazwischen erklingen die Teile aAa. Und zum anderen sorgt der Verlauf des Textes dafür, dass der Refrain AB bei seinem erklingen am Schluss des Stückes oftmals eine neue Bedeutung angenommen hat. In dem Rondeau Quant vous me ferez („Wenn du mir mehr Zuwendung schenken willst“) überra- schen alle „neuen“ Textteile (also diejenigen, die mit den Buchstaben a oder b bezeichnet sind) dadurch, dass sie sich lesen lassen wie ganz gewöhnliche höfische Liebeslyrik. erst mit der Wiederholung des Refrains AB am Schluss erkennen wir, dass Verspre- chungen wie "Mon cueur est votre, non pas mien" („Mein Herz ist dein Besitz, nicht meiner“) abhän- gig sind von dem oft wiederholten ersuchen des Sprechers, der größere Wohltaten seitens der Dame wünscht und erst nach deren gewäh- rung seine Versprechen einlösen würde. Ave maris stella Die meisten mehrstimmigen Hymnen-Ver- tonungen unserer epoche sind recht schlicht: die tieferen Stimmen folgen wie ein Schatten der Hauptstimme, die im Diskant liegt und eine schlichte Choral-Melodie paraphrasiert. Aber in den Händen von Du Fay und Josquin erlangt der einfache Hymnus Ave maris stella eine ungewöhnliche Beredsamkeit. Du Fays nur auf den ersten Blick einfacher Satz mit seinen drei in vollkomme- nem grade koordinierten Stimmen erweckt den eindruck von müheloser Leichtigkeit. Josquins Vertonung erscheint hier stärker reflek- tiert: Tenor und Superius führen die Choralmelodie imOktavkanon durch, gegen die Josquin einen lebhaften und beweglichen Altus setzt, der die Hauptarbeit in diesem Stück leistet, indem er die Musik vorantreibt. Christe fili dei Dieses Stück vermittelt zunächst den eindruck, als handle es sich um ein gewöhnliches gebet an Christus. Aber in Wahrheit bildet dieses Stück den letztenAbschnitt in einem Zyklus von sieben Motetten ( Vultum tuum depre- cabuntur / „Dein Antlitz werden anflehen alle Reichen des Volkes“) zum Lobpreis Mariens. Das gebet weist auf sein wahres Thema hin mit der Textzeile: „Precibus sanctissime matris, adiuva nos“ („Hilf uns aufgrund der gebete deiner allerheiligsten Mutter“). Aber der Schlüssel zum Ver- ständnis ist das vollständige Zitat einer Stelle aus dem berühmten Liebes- lied J'ay pris amours („Ich habe mir die Liebe als meine Richtschnur gewählt“) im Altus der Motette. Dieses musikalische Zitat bekräftigt die Verbindungen des Werkes zu Maria: das Objekt der Liebe ist hier uminter- pretiert von der weltlichen Dame in die gestalt der heiligen Jungfrau. Aultre Venus Zwar wird das Rondeau Aultre Venus nicht so oft aufgeführt wie Ockeg- hems bekannteste Chansons (z. B. D'ung aultre amer oder Fors seulement l'attente ), doch gehört es zweifellos zu den beeindruckendsten Chansons seiner Zeit. Dem auf hoher Stilebene angesiedelten Thema entspricht eine musikalische Redekunst, der es gelingt, zugleich feinsinnig und fast über- sensibel zu reagieren. Man beachte, wie die gesangslinie zu Beginn der zweiten Phrase nach oben strebt („Plus que nulle aultre...“ / „Mehr als jedes andere...“), um dann gleich wieder abzusteigen („... creature“ / „... geschöpf“). Oder man betrachte den Anfang des Refrainteils B, wo die Musik noch weiter in die Höhe steigt bis zur krönenden Phrase „De corps, de beaulté, de figure“ („An Körper, Schönheit, Antlitz“). Diese emotionalen Höhepunkte und Talsohlen werden ergänzt durch das unvermutete erscheinen schneller Noten (z. B. „taille“/ „baille“ am ende des Melodie- teils B/b), die wohl die wahrhaft göttlichen Qualitäten der Angebeteten heraufbeschwören sollen. Terrible dame Diese kühne kleine Liedkomposition beginnt mit einem „fauxbourdon“, also in Parallelklängen, in denen sich die Stimmen in der Skala auf- und abwärts bewegen. Das Stück ist konzipiert als Dialog zwischen einem schmachtenden Liebhaber und seiner angebeteten Dame, die sich abwei- send verhält. Wir hören eine Reihe scharfer Kontraste während des anfäng- lichen Wortwechsels, danach dann eine noch dramatischere Wendung („C'est par deffault“/ „Das liegt an dem Fehler“), wenn der Liebhaber sei- ner Frustration freien Lauf gibt. Missa Ecce ancilla domini/Beata es Maria Komponiert über zwei Antiphonen aus dem Offi- zium an Marienfesten, handelt Du Fays Messe natürlich in besonderemMaße von der Jungfrau Maria. Womöglich ist die Messe sogar konkret für eine marianische Feier in der Osterzeit geschrieben worden. In dieser epoche des Übergangs vom Spätmittelalter zur Renais- sance ist es freilich schwierig, ein so univer- sales Thema wie „Maria“ mit irgendeinem bestimmten Kompositionsstil zu verbinden - aber vielleicht ist es kein Zufall, dass diese zutiefst intime Messe geradezu im Überfluss zweistimmige Passagen enthält. Solche „Duos“ finden wir sogar dort, wo wir sie eigentlich gar nicht erwarten, so in der Mitte des Kyrie I, wo die zweistimmigen Partien eine lange Unterbrechung der umgebenden vollstimmigen Texturen bedeuten. Die gesamte Messe hindurch verwendet Du Fay den Wechsel von Satzstrukturen, um die Musik über lange Zeitspannen hinweg zu organi- sieren. ein herausragendes Beispiel ist das „Qui tollis“, das den zweiten Abschnitt im gloria dieser Messe bildet. Nach einem milde dahinfließen- den Oberstimmenduo, das vor der Anrufung „suscipe“ zu einem vollstän- Petrus Christus (ca. 1444-1475/76), Brügge, Beweinung Christi Josquin Desprez

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