Tage Alter Musik – Programmheft 2016

62 T Age A LTeR M USIK R egeNSBURg Mai 2016 ursprünglichen Naturzustand widerspiegelte. In späteren epochen schöpften die Komponisten das nämliche Material aus demselben Fluss von Volksweisen und reicherten es mit ihren eigenen ästhetischen Vorstellungen an; dabei präsentier- ten sie diese Musik in ihren grundzügen unver- ändert, überwölbten sie jedoch auf geniale Weise sozusagen mit einem musikalischen Überbau wie der Oper oder dem Konzert. Zu wieder anderen Zeiten benützten sie dieses musikali- sche Material in antizipierender Weise, d. h. sie nahmen künftige entwicklungen vorweg, indem sie das Objekt in seinem ursprünglichen Kontext analysierten und es dann aus seinen Parametern lösten, um diesen Schatz, den wir in der Volksmusik besitzen, im Bewusstsein von deren spezifischer Ästhetik zu präsentieren und es so mit der eigenen Kreativität zu verbinden. Wir Musiker, die sich dem Spielen von Musik aus irgendeiner anderen epoche widmen, ver- richten im grund aus unserer Perspektive die gleiche Arbeit. Denn Alte Musik mit all dem zu interpretieren, was irgendwie mit der Volksmu- sik zusammenhängt (größtenteils eine Neu- schöpfung durch den Interpreten) ist eine wei- tere Art und Weise, das volkstümliche erbe fruchtbar zu machen. In diesem Programm stellen wir unter Beweis, dass - unabhängig von der jeweiligen epoche - die Musiker verschiedener epochen und unter- schiedlicher Konzepte auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten können: in diesem Fall, um die wun- dervolle andalusische Volksmusik, die genia- lität der Komponisten früherer epochen, ihr planvolles Strukturieren, ihre Kunstfertigkeit bei der entfaltung der Themen und ihre musikali- sche Sensibilität zu genießen. Das alles weist für mich auf einen neuen Ansatz der Musikinter- pretation hin, der die einstellungen der Vergan- genheit hinter sich lässt und das Tor zur Freude an der Musik wie zu ihrem entwurf aus anderen Sichtweisen aufstößt; diese können zukunfts- weisend sein, wenn sie sich den Zwängen des Marktes verweigern, auf dem sie aufgrund der einfachheit ihres Ansatzes noch nicht fest eta- bliert sind. Faktisch wird der Begriff „Alte Musik“ genau dann verschwin- den, wenn diese Musik sich selbst wieder zu beleben beginnt. VIVI FeLICe. © Enrike Solinís Übersetzung: Christina und Hannsjörg Bergmann El amor brujo von Manuel de Falla Im Jahr 1914 kommt Manuel de Falla nach Madrid, in das er aus einem Paris geflohen ist, das in den Wirren des ersten Weltkriegs versinkt. In der französischen Hauptstadt hat der Komponist sieben für die Ausfor- mung seines Stils entscheidende Jahre verbracht („Was mein Handwerk betrifft, ist Paris meine Heimat“). Jetzt, zurück in Spanien, kann er endlich in seinemHeimatland die Aufführung von La vida breve sehen. Mit dieser Oper hatte er 1905 den Wettbewerb der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando gewonnen, durch den die beste „spanische Oper in einemAkt“ ausgezeichnet werden sollte; allerdings wurde sie erst im Jahr 1913 uraufgeführt, und zwar in Nizza! Außerdem gelingt es ihm, in Madrid La siete canciones populares espaiolas zu präsentieren, ein Werk, das er erst kurz vor seiner Rückkehr in die spanische Hauptstadt fertiggestellt hat. Der in Cadiz geborene Künstler genießt bereits den Ruhm eines großen Meisters, als die berühmte Flamencotänzerin Pastora Imperio an ihn her- antritt, um ihn um ein Lied und einen Tanz für eine Flamenco-Aufführung zu bitten. Falla ist derart begeistert von diesemAuftrag, dass er ein kom- plettes Schauspiel erschafft, eine „gitanería“ in einem Akt mit zwei Sze- nen, für deren Libretto der Dramaturg gregorio Martínez aus Madrid zeichnete, während man es heute eher seiner ehefrau María de Lejárraga zuschreibt. Lejárraga und Martínez bildeten eine Künstlergemeinschaft, in der anscheinend sie den großteil der Texte verfasste und er sich um die Leitung der Theaterprojekte kümmerte, auch wenn sein Name als Handelsname aller Produktionen erschien. Künstlerische Produktions- gemeinschaften machen langsamer Fortschritte als das einzelne genie, wie man weiß. In einem Interview mit Rafael Benedito gab der Komponist einmal die Quelle seiner Inspiration preis: „Das Werk ist ausgesprochen zigeunerisch. Um es zu erschaffen, habe ich immer volkstümliche Ideen verwendet, V. l. n. r. Manuel de Falla, Gregorio Martínez Sierra und Maria Lejárraga in Madrid, Archiv Manuel de Falla. Am 15. April 1915 wurde die Erstfassung von El amor brujo aufgeführt, einem Werk, das eine neue Form des Musiktheaters repräsentiert: mit der Musik von Manuel de Falla, Texten von Maria Lejárraga, unter der Regie von Gregorio Martínez Sierra und der Choreographie von Néstor Martin Fernández de la Torre. Manuel de Falla in París, 1914 Im Theater Lara Pastora Imperio in dem Zigeunerstück „EL AMOR BRUJO“ („Der Liebeszauber“) (Karikatur von Fresno), Zeitschrift „Schwarz- weiß“, 2. Mai 1915

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