Tage Alter Musik – Programmheft 2017

43 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Juni 2017 Das Manuskript wurde um 1370 verfasst, also 100 Jahre später als die Hauptquelle dieser gattung, der Florentiner Codex Pluteus 29 (Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ms. Pluteus, 29). Die Rondelli aus engel- berg und die aus Florenz ähneln einander bezüglich ihrer Texte, aber nicht in musikalischer Hinsicht. Vor allem ist es die Form der engelberger Ron- delli (a b a a a b a B), die typisch ist für weltliche Rondeaux der zweiten Hälfte des 13. und des 14. Jahrhunderts, aber nichts zu tun hat mit der üblichen Rondellus-Form (a a b B). außerdem sind die Phrasen der engel- berger Werke länger und sie beginnen alle mit einer melodischen Verlän- gerung der ersten Textsilbe. Vielleicht weisen die Rondelli des 14. Jahrhun- derts, die uns nicht überliefert sind, dieselben Besonderheiten auf - mög- licherweise aber sind sie tatsächlich nur dem Codex engelberg zu eigen. Die zweistimmigen Conductus der engelberger Handschrift („Unicornis captivatur“, „ovans chorus scholarium“ und „ortus dignis Christi signis“) sind gleichfalls in musikalischer Hinsicht interessant, da sie parallele Quin- ten in der Stimmführung verwenden: einzigartig in allen Quellen der mit- telalterlichen Musik. Der französische Theoretiker elias Salomo (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) fand sie sogar hässlich: „Sed quare voces non distant aequali numero punctorum? Respondeo: consonantia vocum, neque natura cantus artificialis nec naturalis hoc permittit; et si fieret, turpem sonoritatem generaret. Et ita artificialiter et ordinabiliter positum est in figura, et habet veritatem, aliter non haberet. […] Quod manifeste patet; nam si unus laicus audiret alium laicum cantare in prima bassa voce, bene saliret recta in tertia, non autem aliquo modo in secunda; vel e contrario de tertia in prima, sed nunquam in secunda.“ – „aber warum halten die Stimmen nicht den gleichenabstand? Ich antworte: Der Zusammenklang der Stimmen, weder der nach ihrer art künstlichen noch der natürlichen, lässt dies nicht zu; wenn es aber doch geschieht, erzeugt es einen entstellten [Wohl]klang. Und so ist es kunstreicher und mehr nach der ordnung, die es sonst nicht gäbe, wenn sie [die zweite Stimme] in Figuren gesetzt ist [...]“. Scientia artis musicae (1274) Dennoch klingen die parallelen Quinten der engelberger Conductus sehr organisch. Diese art der parallelen Stimmführung, gemeinsam mit den Besonderheiten der Melodiestruktur, lässt darauf schließen, dass alle drei Conductus – zumindest aber „Unicornis captivatur“ und „ortus dignis Christi signis“ – vom selben Verfasser sind. ein anderer zweistimmiger Conductus („Virgo Deum genest“) stammt aus einer der St. galler Handschriften, möglicherweise aus der Feder von gautier de Châtillon (um 1135-1190), wie auch „ovans Chorus Schola- rium“. Vielleicht hat gautier de Châtillon auch das in mehreren Handschriften bezeugte „Dum medium Silentium tenerent“ geschrieben, das sich eben- falls in der St. gallener Stiftsbiblio- thek unter der nummer 551 findet. eines der St. galler Manuskripte überliefert mit „Procedenti puero“ einen weiteren Rondellus, der in verschiedenen Varianten weit über die Schweizer grenzen hinaus bekannt war. ein anderer in mehreren Hand- schriften aufgeführter einstimmi- ger Conductus ist „Beate virginis“ (in engelberg in veränderter Text- form: „Marie virginis“). Die Züricher Handschrift C581275 enthält eine Variante des bekannten einstimmigen Conductus „Homo natus ad labo- rem“ von Philippe le Chancelier (um 1160/70-1236). Die beiden dreistimmigen Conductus „Quid frustra consumeris“ und „Ve proclamet clericorum“ befinden sich mitten unter Trouvère-Liedern in der Trouvère-Handschrift C, die heute in Bern liegt. Die Instrumente Bis in die 1970er Jahre wurde mehrstimmige und einstimmige Musik mit den verschiedensten Instrumenten aufgeführt. Heute befinden wir uns in einer Periode, die der Musikwissenschaftler Howard Mayer Brown als „The english a cappella heresy“ bezeichnete, was gleichzusetzen ist mit der ablehnung von Instrumenten zur Verstärkung der Vokalpartien mit- Anastasia Bondareva, Sopran Witte-Maria Weber, Sopran Alexander Gorbunov, Fidel Witte-Maria Weber & Danil Ryabchikov

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