Tage Alter Musik – Programmheft 2017

63 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Juni 2017 so heißt es in der ersten Strophe des Liedes „Yo soy la locura“ von Henry du Bailly (?-1637). überhaupt war das 17. Jahrhundert eine Zeit, in der Verrücktheit und Tollheit durchaus positiv bewertet wurden - man denke nur an Don Quijote oder die Commedia del‘Arte , aus der sich später die oper entwickelte! ImHinblick auf die uns in den Quellen überlieferten musikalischen Werke dominiert im spanischen 17. Jahrhundert jedoch noch klar die Polyphonie, während die aus Italien herüberschwappende begleitete Monodie erst nach 1650 erste, zarte Blüten ausbildete – obgleich sie im Volk die belieb- teste Liedform gewesen zu sein scheint. Diese Liedform entwickelte sich gleichzeitig zu einer wahren Revolution in der Poesie, die in den letzten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts ihren anfang nahm. Junge Dichter, Partygeher, Charmeure, die sich sämt- lich für das Singen, Tanzen und die improvisierte Dichtung begeisterten, nahmen seinerzeit traditionelle Modelle der spanischen Poesie auf, um daraus etwas zu kreieren, was später als „romance nuevo“ (neue Ballade) bekannt wurde. Daraus entstand ein poetischer Stil, der aus der Tradition der Romanze kaum mehr als die Form der Verse übernahm, während er neue pastorale und amouröse Themen adaptierte, eine neue Sprache und neues rhetorisches Material. Die Handschriften der dabei entstehenden „romances, letrillas und segui- dillas “ verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, doch schneller noch wurden die Stücke mündlich übermittelt, durchaufführungen. Dabei überschritten sie auch grenzen und avancierten bald zu den beliebtesten Unterhaltungen hochgestellter Höflinge in Frankreich und Italien. Der bezeichnende gemeinsame nenner all dieser Stücke ist zweifelsohne der Dreiertakt mit wiederkehrenden Hemiolen, der zu einem Kennzeichen spanischer Musik im Barock wurde – im gegensatz zur totalen Dominanz des Zweiertakts im vorausgegangenen Jahrhundert. Die Verrücktheit – ob real oder nur vorgetäuscht – entwickelte sich damals zu einem der bevorzugten Themen der epoche in Literatur und Musik; nicht nur, weil sie so manchen ausrutscher im sozialen Umgang entschul- digte und die Realität auch aus Perspektiven betrachtete, die gesellschaft- lich sonst vielleicht nicht akzeptabel gewesen wären, sondern auch, weil unter der Voraussetzung der Verrücktheit die erkundung einer Reihe von Leidenschaften in einem Charakter erlaubt war, die in einer gesunden Per- sönlichkeit wenig glaubhaft gewirkt hätten. Tatsächlich vergisst auch in Don Quijote der junge Cardenio seine Sorgen beim Singen von gedichten, wie ¿Quién menoscaba mis bienes? (Wer schmälert mein einkommen?), in denen die einzige Heilung von unglück- licher Verliebtheit darin besteht, verrückt zu werden. Dieses „ovillejo“ (eine poetische Versstruktur, die Cervantes höchstpersönlich erfunden hatte) findet sich nur in der anthologie Scherzi Amorosi von giovanni Stef- ani, die 1622 in Venedig veröffentlicht wurde. Dennoch wissen wir nicht, ob dieses Lied von einem Italiener komponiert wurde oder ob es zu den vielen spanischen Liedern gehörte, die im Laufe des 17. Jahrhunderts ihren Weg nach Italien fanden. noch zwei weitere anonyme Lieder aus diesem Programm entstammen dieser Sammlung: „De Mis Tormentos y enojos“ (auf meine Qual und Wut) und „Tres niñas me dan enojos“ (Drei Mädchen machen mich wütend). Beide waren bereits in den 1590er Jahren in nord- italien bekannt, wie aus diversen poetischen Manuskripten hervorgeht, die in aristokratischen Kreisen kopiert wurden. Die Melodie von „Con esperanzas espero“ (Mit Hoffnung warte ich) dage- gen, 1613 in London erschienen, entstammt einem Druck des Italieners angelo notari, der sie aus seinem eigenen Land mitgebracht haben könnte, denn der Text findet sich in diversen italienischen Handschriften wieder. Möglich ist aber auch, dass er dem Stück in den diplomatischen Kreisen des „Conde de gondomar“ begegnet war, dem er nicht nur als Sänger, sondern auch als Spion treue Dienste leistete. Zwei Stücke dieses Programms sind Schauspielen aus der Mitte des Jahr- hunderts entnommen, einer der experimentelleren Perioden in der spani- schen Bühnenmusik. Calderóns „andrómeda y Perseo“ (1653) war ein Versuch, einige der italienischen opernkonventionen in Spanien einzu- führen; der anonyme Komponist könnte Juan Hidalgo gewesen sein. In dieser Komödie lassen die götter Perseus in tiefen Schlaf sinken, um seine Herkunft zu erfahren: er sieht eine junge Danae, die von ihrem eigenen Vater gefangen gehalten wird, und dann die ankunft Jupiters in der gestalt goldenen Regens. nachdem dies eine Szene aus der Vergangenheit ist, scheint es sehr plausibel, dass Danae den Refrain eines weltlichen Liedes von Juan Blas de Castro singt, „Ya no les pienso pedir“ (Ich will nicht mehr weinen), das schon mehrere Jahrzehnte alt war und den verwirrten gei- steszustands der Prinzessin deutlich widerspiegelt. Zwei Jahre später arbeitete Hidalgo für das Stück „Pico y Canente“ mit Luis de Ulloa zusam- men, aus dem uns ein Lamento der Canens erhalten blieb, in dem sie sich entschließt, zu verschwinden und sich in Luft aufzulösen, als sie sich der Tatsache bewusst wird, dass sie ihren Liebhaber niemals wiedersehen wird. Für dieses Stück komponierte Hidalgo auf Vorschlag von Baccio del Bianco das Lamento „Crédito es de mi decoro“ (Zeuge meiner ehre), von dem wir wissen, dass es von der Schauspielerin Luisa Romero gesungen wurde, „einer Musikerin, berühmt für ihre Rezitative, die sie wie ein engel sang“. Hier zeigen sich italienische einflüsse, wenn die agonie des Cha- rakters durch Chromatik, Dissonanzen, Pausen und unerwartete melodi- sche Wendungen verdeutlicht wird. Daneben finden sich in diesemProgrammdiverse Tänze; manche davon wer- den gesungen, andere instrumental ausgeführt. Im spanischen Siglo de oro (goldenen Zeitalter) wurden sehr viele Tänze komponiert. Die meisten davon waren Versdichtungen, die auf der grundlage bestimmter charakteristischer rhythmischer und harmonischer Modelle gesungen und derenMelodien sel- ten notiert wurden, da sie ohnehin jeder kannte. Viele dieser Melodien wurden zu „grounds“, ostinaten Basslinien für instrumentale Kompositionen und Improvisationen. Manche davon, wie etwa die Sarabande oder die Chaconne, avancierten dabei auch über grenzen hinweg zu essenziellen elementen des europäischen Barock. „Si queréis que os enrame la puerta“ (Wenn du möchtest, dass ich deine Tür- schwelle bedecke) entstammt einem kleinen gedichtband mit anleitungen für die Begleitung, der 1623 von Luis de Biceño in Paris veröffentlicht wurde; die Mehrzahl dieser gedichte sind imgrunde gesungene Tänze. Der Text „Si queréis“ findet sich jedoch auch in einer Reihe in Italien veröffentlichter Manuskripte, was seine enorme Beliebtheit unterstreicht. eigentlich handelt es sich dabei um eine „folia“, einen populären Tanz portugiesischen Ursprungs, dessen name die Verrücktheit der ihnausführenden thematisiert und der später eine in ganz europa sehr weit verbreitete Form wurde. Der Text der “Zarabanda del catálogo” (Catalogue Sarabande) findet sich in einem Manuskript, das 1589 von einem Italiener spanischer Herkunft in Raquel Andueza

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