Tage Alter Musik – Programmheft 2017

67 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Juni 2017 einst gab es eine Zeit, in der der Mythos die wirksamste erklärung unserer Welt war und das Leben der Menschen, Tiere, götter, Bäume und Blumen zu einer beweglichen, sich ständig verändernden Kette verknüpft wurde. Verschiedene Formen des Seins zu durchwandern war häufig und es war ein Weg, wenn nicht der Königsweg, von erkenntnis. Die einflussreichsten Mythen in der Kultur europas waren und sind die griechischen. In der Kultur Italiens und Frankreichs kam es im 14. Jahr- hundert zu einer Renaissance der antike, die wir normalerweise dem Humanismus des folgenden Jahrhunderts zurechnen. „Metamorfosi Tre- cento“ ist der Titel des italienischen Sektors für die musikalische erfor- schung des antiken Mythos im späten Mittelalter. Die klassischen Mythen, die hauptsächlich durch die mittelalterlichen übersetzungen und Bear- beitungen von ovids „Metamorphosen“ überliefert wurden, sind Bestand- teil einiger Musikstücke aus dem Repertoire der ars nova. aber der Mythos kehrt nicht ohne Verwandlung zurück: einst eine göttliche erschei- nung der Wahrheit in der polytheistischen Welt, wird er zu einer morali- schen erzählung, einem lehrhaften exempel, wie man sich nach dem Sys- tem von Tugenden und Lastern der christlichen ethik zu verhalten hat, oder wiederum zu einer Liebesgeschichte, einem archetypus von Leid, Schönheit und der Unmöglichkeit höfischer Liebe. Und vor allem diese letztere, von der überwältigenden Macht der Liebe bestimmte, Metamorphose ist die neuentdeckung der italienischen Meis- terkomponisten. In ihren Werken verlieren die Mythen ihre moralische Funktion, um der höfischen Liebe zu dienen. In den Liedern unseres Programms kann man tatsächlich den Irrtum in dem einsamen und wahnwitzigen Traum des narzissus, sich selbst zu lie- ben, besingen hören, der ihn zu seiner todbringenden Reise in die Was- serwelt verleitete und ihn so als Wasserlilie wiedergebar; von Daphne, die sich in einen Lor- beerbaum hineinträumte, umapollo zu entflie- hen; von orpheus, der die wilden Tiere bezau- bern, aber nicht ins Totenreich reisen kann, ohne seine geliebte zu verlieren; vom Schlangenun- geheuer Python, das Ägypten in Schrecken ver- setzt; von Callisto, die in einen Bären und danach in die Urs-Major-Konstellation verwan- delt wurde, um von Jupiter geliebt zu werden; von Medusa und ihrem schrecklichen Blick; vom betörenden gesang der „bella Iguana“, Traumfigur einer Zaubersirene als Symbol des verführerischen Zaubers der Phantasien und der hypnotischen Verzauberung durch die Musik. Hier setzt unser Programm ein. „Si chome al canto della bella Iguana“ erzählt von der berühmtesten Reise, der des odysseus, und vom gesang der Zauberin Circe, der ihn über ein Jahr lang von der Heimkehr abhält. es ist ein Her- aufbeschwören des fantastischen gesangs der Zauberin und auch der Sirenen; letzten endes der Magie der Musik imallgemeinen, ihrer ver- träumten und halluzinatorischen Macht, die unsere gedanken schweifen lässt. Was Jacopo und die anderen italienischen und französischen maestri bereits verstanden und in ihre Polypho- nien übersetzt hatten, ist dies: dass die Musik selbst wahrscheinlich die machtvollste aller Traumreisen darstellt. „Diese Dinge sind niemals passiert, sie gesche- hen jedoch seit ewigen Zeiten“, schrieb Salustios über Mythen. Tatsächlich hat die westliche Musik seit dem 14. Jahrhundert immer aus der Quelle der Mythen getrunken. Wenn Kompo- nisten nicht durch den großen moralischen Bericht über Christus inspiriert wurden, wenn die geschichte nicht heilig war, wandten sie sich den Mythen als einem großen und unübertroffenen Repertoire exem- plarischer erzählungen, narrativer archetypen zu, in denen sich jeder wiedererkennen konnte und es noch immer kann: eine Rückkehr zu den Klassikern, die im 14. Jahr- hundert einsetzt und den langen Weg hin zum bedeutendsten welt- lichen genre bis zu den ersten Ver- suchen in Florenz und Mantua beschreibt - der oper. Doch heutzutage teilen wir die erinnerung an Mythen nicht mehr mit einem einst exklusiven Publikum, das täglich mit den klassischen Mythen in Berührung kam. Um deshalb die alten geschichten, die in denars nova- Stücken oft nur flüchtig erwähnt und als bekannt vorausgesetzt werden, optisch sichtbar zu machen, haben wir nuria Sala grau, eine auf aus- druckstanz (insbesondere indischen Tempeltanz) spezialisierte Tänzerin gebeten, die in den Stücken zitierten Mythen durch gestik und Körper- sprache zu visualisieren. So wurde die Idee eines getanzten Konzerts gebo- ren, bei dem die Mythen vor unseren augen gestalt annehmen, als wäre der Tanz unsere geheime erinnerung an die alten geschichten, die von der Musik angedeutet werden. © Michele Pasotti (Übersetzung: Christina und Hannsjörg Bergmann) Michele Pasotti Foto:alberto Molina CD: Metamorfosi Trecento

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