Tage Alter Musik – Programmheft 2018

15 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 mehrere Jahrhunderte lang mehr oder weniger geschlafen, aber das reiche erbe von Petrus alamire hat überdauert. er hat eine zentrale rolle bei der erhaltung der besten Kompositionen seiner Zeit gespielt und war insbe- sondere ein engagierter Verfechter der Kunst von Josquin des Préz und Pierre De la rue. Das Korpus der in seiner Werkstatt produzierten Hand- schriften umfasst mehr als 600 Werke, darunter Messen, Motetten, Chan- sons und Instrumentalmusik. Das „Chorbuch des Spions“ mit seinen 34 Motetten ragt daraus als vielleicht eines der interessantesten und musi- kalisch abwechslungsreichsten Werke hervor. © David Skinner Die Musik Keine der Motetten ist namentlich einem Komponisten zugeordnet, aber einige von ihnen sind aus anderen Handschriften oder frühen Drucken bekannt. Sie gehören zweifellos zu den schönsten französischen oder fran- zösisch-flämischen Kompositionen aus den ersten Dekaden des 16. Jahr- hunderts, was angesichts des königlichen empfängers nicht überrascht. Das ausgehende 15. und frühe 16. Jahrhundert war eine der fruchtbarsten und kreativsten Perioden für die musikalische Komposition, und es kein Zufall, dass jede einzelne dieser Motetten einzigartig ausdrucksvoll und originell ist. Die bedeutendsten in das Chorbuch aufgenommenen Kom- ponisten sind Des Préz, De la rue, Jean Mouton und antoine Févin mit ausgesprochenen Meisterwerken. aber fast ein Drittel der aufgenommenen Werke bleibt anonym, und gerade davon gehören viele zu den Juwelen der Sammlung. Der zur Verfügung stehende Platz reicht nicht aus, um alle zu bewerten, aber schon Dulcissima Maria bordet trotz seiner Knappheit von einfällen nur so über. Im wesentlichen ein gebet zur Vorbereitung auf das Sterben, geht seine Modulation von einer dumpfen und nüchternen eröffnungs- sequenz zu einer rhythmisch ziemlich stark ausgeprägten Wiederholung des Themas über, dann zu einem harmonisch höchst gewagten aufbau, um in einer Schlusskadenz zu enden, die als unvermuteter akkord-Cluster vor der auflösung beschrieben werden kann. Tota pulchra es ist eine etüde über die ersten vier noten von Salve Regina , die in der ersten Hälfte des Lieds von den beiden oberstimmen imitativ übernommen werden und in der zweiten Hälfte in ähnlicher Weise von den beiden unterstimmen. eine solche Vorgehensweise war damals all- gemein üblich, doch die meisterhafte ausführung der komponierten Stim- men lässt darauf schließen, dass der Satz von einem der renaissance-Meis- ter stammt, wenn nicht von Des Préz selbst, obwohl jede Zuordnung auf grund des Stils allein gefährliches Terrain darstellt. Die ziemlich umfangreichen musikalischen essays O domine Jesu Christe und O beatissime Domine Jesu Christe , beide gleichermaßen Meditationen über den bevorstehenden Tod, zeigen ebenfalls die Ideenvielfalt in Textur und musikalischer ausgestaltung bei diesen unbekannten Komponisten. es gibt auch eine geringe anzahl von Werken, die mit Margarete von Österreich und erzherzog Karl in Zusammenhang stehen, einige wenige einsprengsel von habsburgischen edelsteinen am Hofe der Tudors. Doleo super te von De la rue spielt wohl auf den Tod von Margaretes Bruder Philipp dem Schönen an, während das anonyme O sancta Maria, virgo vir- ginum (hier nur instrumental aufgeführt) ein gebet speziell für Karl enthält. Maxsimilla Christo amabilis , ebenfalls anonym, ist eine der wenigen Motetten in dem Buch, die eine rein liturgische Funktion haben: Der Text ist eine Vesper-antiphon zum Fest des heiligen andreas, dem Schutzpatron Bur- gunds und des ordens vom goldenen Vlies, am 30. november. Die letzte Blattfolge des Chorbuchs wurde vermutlich kurz vor der aus- lieferung nach england zusammengestellt und enthält fünf aufeinander- folgende Musiksätze über Didos letzte Worte aus der aeneis von Vergil, einer Thematik, die im frühen 16. Jahrhundert bei Komponisten sehr beliebt war. ein anderer Vergil-Text Fama, malum qua non aliud erscheint bereits an früherer Stelle im Buch, aber bei den Dulces-exuviae -Motetten sieht es fast aus als seien sie auf jemandes ausdrücklichen Wunsch beige- fügt worden, wobei unklar ist, ob sie für anne de Bretagne oder für Katha- rina von aragon zusammengestellt wurden. Wie Frank Tiro feststellt, gibt es bemerkenswerte Parallelen im Leben dieser beiden Frauen: Beide erfreu- ten sich einer glücklichen Kindheit und einer vielversprechenden ersten ehe, die tragisch endete, wie es Vergils Text passend widerspiegelt. Beide Frauen mussten den Tod ihres jungen ehemannes erleiden und später die Qual vieler tot geborener Söhne. So ist es vielleicht kein Zufall, dass in der Handschrift unmittelbar danach Absalon, fili mi folgt, die Vertonung von Davids Klage über den Tod seines Sohnes, die lange Des Préz zugeschrie- ben wurde, während andere glauben, dass sie von De la rue komponiert wurde. © David Skinner Anmerkungen zur Instrumentierung Die „lauten“ Blasinstrumente der Tudor-epoche in england waren die nachfolger einer Tradition, die bis ins Mittelalter mit seinen alta capella- ensembles und deren dreistimmiger Besetzung mit Schalmeien und Zug- trompeten zurückreicht. Mit der entwicklung des Instrumentenbaus änderte sich auch der Charakter dieser Bläserensembles, und zur Zeit von König Heinrich VIII. war die Posaune die Stütze dieser Bläsergruppen geworden, die manchmal noch durch das erst kurz zuvor importierte Kor- nett erweitert wurden. Die Kraft und unmittelbarkeit dieser Instrumente war äußerst praktisch in großen akustikräumen und ideal für die Vermittlung abstrakter Vor- stellungen wie königliche Pracht und Macht. Im Verlauf des 16. Jahrhun- derts sollte sich der Charakter dieser ensembles noch einmal deutlich ver- ändern. Dieses Konzert ist eine Momentaufnahme eines klangfarbenrei- chen höfischen Bläserensembles, wie es für die Zeit Heinrichs VIII. typisch war. Wir setzen es hier in einem Kontext mit hoher Vokalkunst ein, wie sie in modernen Konzerten undaufnahmen selten zu hören ist. Wennala- mire nach england reiste, begleitete ihn bekanntlich der Zugposaunist Hans nagel, der in der affäre um Heinrich VIII. und richard de la Pole ebenfalls als Spion tätig war. einige der Motetten in dem Chorbuch, besonders die auf den letzten Blät- tern, scheinen für eine reine Instrumentalaufführung perfekt geeignet zu sein, vor allem Recordamini quomodo dixit und Iesus autem transiens , bei denen jeweils nur der Textanfang ausgeführt ist, während der gesamte Kompositionsstil eher instrumental als vokal ist. Bei anderen Motetten scheint die Verbindung von Instrumenten und Singstimmen perfekt gelun- gen und wir kombinieren sie hier vor allem in den gehaltvolleren Stücken, Pierre de la Rue

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=