Tage Alter Musik – Programmheft 2018

40 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 tag ( Feria V In Coena Domini) beginnt das erste nocturno (nicht gesetzt) im garten gethsemane, das zweite und dritte betrachten den Verrat des Judas und die gefangennahme Jesu. Die nocturnos des Karfreitags ( Feria VI In Parasceue) erzählen die gerichtsverhandlung und den Kreuzweg, und die nocturnos des Samstags reflektieren den Tod und schließen mit Sepulto Domino die grablegung Jesu. Während des gottesdienstes wird schrittweise nach jedem der 14 Psalmen (neun in der Matutin und fünf in den Laudes) eine Kerze nach der anderen gelöscht, die sechs Kerzen auf demaltar werden während des Benedictus gelöscht, und die letzte noch brennende Kerze auf dem Leuchter, die Jesus symbolisiert, wird während der Christus-antiphon und des Schlussgebets unter den altar gestellt, so dass der gottesdienst in völliger Dunkelheit endet. nun ertönt lauter Lärm ( strepidus) , indem man mit Büchern gegen das Chorgestühl schlägt oder auf den Boden stampft, um das erdbeben nach Christi Tod darzustellen. erst wenn die noch brennende Kerze als Symbol der auferstehung wieder hervorgeholt und auf den Leuchter gesteckt wurde, entfernen sich alle Teilnehmer schweigend. Victoria setzte die responsorien wie die Lamentationen für vier Stimmen, meistens Sopran, alt, Tenor und Bass, aber bei jedemnocturno wurde das zweite responsorium für SSaT gesetzt und oft – einer römischen Tradition aus dem 18. Jahrhundert folgend – von Tenor und Bass eine oktav tiefer gesungen. Die responsorien weisen eine ausgewogene dreiteilige Struktur auf: ein zweiteiliger Wechselgesang, ein Versikel und die Wiederholung des zwei- ten Teils des Wechselgesangs ergeben die Struktur aBCB. Viktoria schrieb die Versikel immer für eine reduzierte Stimmenzahl und die Wechselge- sänge für vier Stimmen. Für liturgische Zwecke wird das responsorium des letzten nocturnos zusätzlich wiederholt in der abfolge aBCBaB, bei konzertanten aufführungen entfällt diese letzte Wiederholung jedoch meistens. auch für die Versikel gibt es ein durchgängiges Schema: abgesehen vom allerersten responsorium, einemDuett, ist der erste von drei Sätzen für SaT, der dritte für aTB und der zweite setzt mit SST oder SSa eine zusätzliche Sopranlinie ein, was innerhalb eines Satzes einfache Kontraste ermöglicht. obwohl Victoria nie säkulare Musik komponiert hat, ist sein umgang mit Texten zeitweise eher madrigalartig. Im allgemeinen kommen melismati- sche Partien nur vor, um ein bestimmtes Wort besonders hervorzuheben, und auch die Wiederholung von kurzen Phrasen wird zu bestimmten Zwe- cken eingesetzt, indem Stimmpaare musikalische Spannung aufbauen, z. B. im abschnitt Adversus dominum in Astiterunt reges. Viktoria benützt ähnliche rhythmische und melodische Muster, wenn glei- che oder ähnliche Textpassagen in verschiedenen responsorien vorkom- men, z. B. bei Si est dolor sicut dolor meus, das in fast identischer Weise in Caligaverunt (nr. 12) und in O vos omnes (nr. 14) vorkommt, wo er die aus- drucksstarke abwärtsbewegung der Quarte einsetzt wie John Dowland in seinem berühmten Lacrimae-Motiv. Ähnlich verhält es sich mit der Pas- sage Tamquam ad latronem cum fustibus et gladiis , die zuerst im zweiten abschnitt von Seniores populi erscheint, dem letzten Wechselgesang der Donnerstagsmesse, und dann wieder am Beginn der Karfreitagsrespon- sorien. ein weiteres Beispiel ist die Phrase Bonum, melius erat, si natus non fuisset . Sie bezieht sich auf Judas und taucht mit leichten Variationen in allen drei Wechselgesängen des zweiten nocturnos am Donnerstag auf. ebenso wiederholt die eingangsphrase des responsoriums Jesum tradidit impius die von Judas mercator pessimus (nr. 2), um dem Hörer den Verrat des Judas in erinnerung zu rufen. aber immer ergänzt Victoria den Text nur mit seiner scheinbar einfachen Vertonung, ohne die Musik die ober- hand gewinnen zu lassen. Zugleich schafft er eine zusammenhängende, durchstrukturierte und besinnliche reise durch die drei Tage, die den Höhepunkt der Karwoche darstellen. © Rupert Damerell tomás Luis de Victoria: Requiem-Messe, 1605 Tomás Luis de Victorias requiem-Messe für sechs Stimmen, geschrieben 1603 und 1605 veröffentlicht, ist ein Meisterwerk. Für viele repräsentiert es die Polyphonie der renaissance, wie sie klingt, sich anfühlt und wie ausdrucksstark sie sein kann, und diejenigen, die es durch ihr Interesse an alter Musik kennengelernt haben, sind mutig genug zu behaupten, dass es neben Werken wie der Matthäus-Passion von J. S. Bach, dem Mo- zart-requiem und vielleicht auch Beethovens neunter Symphonie als eine der wirklich großen errungenschaften der Musikgeschichte bestehen kann: ein Meisterwerk, wenn es denn je eines gab. Dennoch ist sie weitgehend nur als „frühe Musik“ bekannt. Trotz der Bemühungen und der Proteste vieler aufführender Künstler wird sie oft durch die Brille oder besser den Filter der „akademischen aufführungspraxis“ gewertet. Zwischen „alter Musik“ und „nicht alter Musik“ existiert von unterschiedlichen Stand- punkten aus eine Barriere und sie beeinflusst unsere Beziehung zu dem, was wir hören, wie wir uns emotional damit identifizieren, wie wir ihre aufführung bewerten sollen und sogar das ausmaß, in demwir uns ange- sprochen fühlen oder uns überwältigen lassen. Was also ist ein Meisterwerk? Vielleicht genau das, was uns durch seine größe zwingt, seine geschichte zu vergessen: wann und unter welchen umständen es geschrieben wurde, von wem und für wen. Seine größe existiert außerhalb der Zeit und ist heute noch so beeindruckend wie zu der Zeit seiner entstehung. ein großer Komponist muß seine Ideen nur in noten umsetzen und ein großer Interpret muß sie nur verstehen und einem empfänglichen Publikum vermitteln. Das ist Musik, nicht moderne oder frühe Musik, nicht neue oder alte. Dennoch trägt es zum Verständnis der Kreativität eines Komponisten bei, wenn man umstände aus seinem Leben kennt. Immerhin war der Künstler eine Person, die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten ort Kunst schuf, die von anderen Zeitge- nossen erfahren werden sollte. ein richtiges Verständnis des Werks erfor- dert die akzeptanz dieser Idee und dieser Begrenzung. Ist nicht dieses ganze gerede von universalität, Transzendenz und Zeitlosigkeit von Kunst bloße Träumerei? Die Zeit trennt uns definitiv von der Vergangen- heit. unsere aufgabe ist es, geschichtliche Tatsachen zu verstehen und zu versuchen, uns dem Schaffen dieser anderen Zeit anzunähern. Je näher Vittoria Manuskript

RkJQdWJsaXNoZXIy OTM2NTI=