Tage Alter Musik – Programmheft 2018

41 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 wir dem „tatsächlich-dort-Sein“ kommen, desto mehr gelingt es uns, der Künstler selbst zu sein und sein Kunstschaffen zu verstehen – anders gesagt, sich im höchstmöglichen Maß auf die Kunst der damaligen Zeit zu beziehen und mit ihr zu interagieren. Das ist das Problem. Wir kennen alle den zweifelhaften erfolg vieler Inter- preten, wenn sie versuchen, „geschichtlich informiert“ zu sein über die Musik, die sie aufführen. Während sich in akademischen Kreisen diese theoretischen argumente seit Jahrzehnten austoben, genießt der „zusätz- liche Wert“ der Berücksichtigung akademischer Forschung bei Konzerten und auf CDs große Popularität. In der Tat ist es genau dieser enthusias- mus, der Werken wie Victorias sechsstimmiger Messe zu einer weit ver- breiteten Bekanntheit verholfen hat. aber was macht einige Werke zu herausragenden? Warum sehen wir uns manchmal gezwungen, abgesehen von unserer Begeisterung für und unse- rer Faszination von geschichtlichen Informationen, das schwierige Thema von der Zeitlosigkeit der Musik anzuschneiden? es ist nicht von Bedeu- tung, wie weit wir in der geschichte graben: großartige Musik weigert sich, Beschränkungen zu akzeptieren oder ein anderes Verständnis, eine andere antwort als Staunen, Demut, ehrfurcht und alle anderen wichtigen gefühle, für die es keine Worte gibt. Vielleicht um dies zu demonstrieren, gibt es im folgenden einen Überblick über die historischen Fakten rund um die sechsstimmige requiem-Messe von Victoria. Tomás Luis de Victoria wurde im Jahre 1548 in avila, 88 Kilo- meter nordwestlich von Madrid, geboren. er besuchte die Chorschule an der dortigen Kathedrale und erhielt unterricht von Bernardino de ribera und Juan navarro, die beide bekannte Komponisten im Spanien des 16. Jahrhun- derts waren. Bis zu seinem Stimmbruch war Victoria an der Jesuitenschule in avila, bevor er 1565 nach rom geschickt wurde, wo er zunächst Sänger, dann Musikdirektor am Collegio germanico war, einer jesuitischen grün- dung, die Priester für die Missionsarbeit ausbildete. nach seiner Priester- weihe 1575 blieb er in rom, wo er hauptsächlich als Priester arbeitete, dabei aber ein sicheres einkommen aus seiner Verbindung mit zwei bedeutenden religiösen Häusern in rom sowie Pfründen in Spanien, aber auch durch die Veröffentlichung von Büchern mit Motetten und Messen erzielte. Im Jahr 1585 wurde er zum Kaplan der Kaiserinwitwe Maria, der Schwester König Philips II. von Spanien, ernannt. Maria lebte imMonasterio de las Descalzas de S. Clara (demKonvent der Barfüßigen Schwestern von S. Clara) in Madrid zusammen mit 32 anderen nonnen weltabgewandt in außergewöhnlichem Luxus; die nonnen waren verwitwete oder unverheiratete Damen aus dem adel, die alle ihre aussteuer mitgebracht hatten. Victoria wurde Musikdi- rektor des Konvents mit einem Chor von zwölf erwachsenen Priestern und vier Knaben unter sich. er verfügte außerdem über einen Leibdiener und die Mahlzeiten wurden ihm privat serviert. es gelang ihm sogar, seinen ihm zugesicherten Jahresurlaub von vier Wochen auf drei urlaubsjahre von 1592 bis 1595 auszudehnen. Im Kloster gesellte sich ihm zudem agustín, einer seiner Brüder, zu, der ebenfalls Kaplan war. Im Jahre 1603 starb die Kaiserin, und 1605 publizierte Victoria die Musik, die er für die Beisetzungsfeierlich- keiten (die mindestens einen, wenn nicht mehrere Tage gedauert haben dürf- ten) komponiert hatte unter dem Titel Officium defunctorum: in obitu et obsequiis sacrae imperatricis (Totenmesse zum Tod und dem Leichenbegängnis der hei- ligen Kaiserin). In ihrem Testament hatte Maria ihm geld hinterlassen, was ihm erlaubte, bis zu seinem Tod im Jahre 1611 in dem Kloster zu bleiben. Helfen uns diese Informationen, die Musik zu würdigen, die Victoria vor mehr als 400 Jahren geschrieben hat? Hilft es uns bei ihrer Würdigung, sich uns 30 wohlhabende, weltabgeschiedene, barfüßige aristokratinnen vorzu- stellen, die in einem reichen Kloster im Zentrum von Madrid sitzen und die- ser Musik lauschen, die von zwölf Männern und vier Knaben aufgeführt wird, und die den Verlust ihrer Matriarchin, die vielleicht ihre Freundin war, betrauern? oder hilft uns das Wissen, dass diese Musik veröffentlicht und über ganz europa verbreitet wurde und im frühen 17. Jahrhundert vielleicht bei Hunderten von anderen Feierlichkeiten verschiedenster art von Chören jedweder größe und Fähigkeiten aufgeführt wurde? Hilft es, sich daran zu

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