Tage Alter Musik – Programmheft 2018

T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 zum Programm: Man stelle sich die Begeisterung der Pilger vor! alle Mühsal und Last des Weges wie hinweggefegt von der Begeisterung, am Ziel angekommen zu sein! und nun diese Lust zu singen, zu tanzen, mit einem Wort: ekstase. es gibt einen ort auf der iberischen Halbinsel, wo dieser offensichtliche enthusiasmus die regel ist: Kaum weniger bekannt als Santiago de Com- postella, wo all diejenigen zusammenströmen, die gemeinsam am grab des heiligen Jakobs des großen beten wollen, ist auch das Kloster von Monserrat in Katalonien das Ziel von unzähligen gläubigen, die begierig darauf sind, die Schwarze Madonna aufzusuchen, auf der die Berühmtheit dieses Klosters beruht. Der Legende nach führte im Jahr 880 eine wundersame Vision dort ansäs- sige Schafhirten zu einer grotte, wo sie ein Bild der Muttergottes fanden. es stellte sich heraus, dass es unmöglich war, sie an einen anderen ort zu schaffen. So wurde dieser ort geweiht, eine Kapelle bot dem Bild Heimstatt und bald folgte ein Kloster. Mit christlichem eifer, verstärkt durch die reconquista, die die grenzen der dem Islam unterworfenen gebiete immer weiter zurückdrängte, nahm die Verehrung der Madonna immer mehr zu. Die polychrome hölzerne Statue, die heute im altarraum bewundert werden kann, stammt aus dem 13. Jahrhundert, als die Zwiesprache mit dem Wunder von Katalonien keine gefahr mehr darstellte, sondern ein abenteuer. Der ständig wachsende Strom der Pilger schuf bei der ankunft im Kloster allerdings ein delikates praktisches Problem. Da es nicht aufgabe von Klöstern ist, alle möglichen Besucher – abgesehen von adeligen auf der Durchreise – aufzunehmen, müssen die meisten, Männer und Frauen gemischt, in der abteikirche warten, bis sie sich dem altar nähern und der Madonna ihre Verehrung erweisen, sie anflehen oder ihr für ihren Schutz danken können. Die Bedürfnisse von Mönchen, Kirchengemeinde und Pilgern gleichermaßen zufriedenzustellen, schien schier unmöglich. Damit sich aber gottesdienste, Zeiten der Kontemplation und festliches Feiern der Pilger nicht gegenseitig störten, fanden die Mönche selbst einen Weg, die energie der gläubigen, die, endlich am Ziel ihrer spirituellen Suche angelangt, singen, tanzen und feiern wollten, auf die Marienvereh- rung zurückzulenken: nämlich durch Spielen von volkstümlichen Motiven, rhythmen, Wechselgesängen und Melodien, bereichert durch Kanons, Wechselgesänge oder refrains, die man sich leicht merken und im Chor wiederholen, ja sogar tänzerisch ausgestalten konnte. Das rezept war ein- zigartig und originell, denn das nebeneinander der unterschiedlichen gat- tungen war damals zwar nicht direkt verpönt, wurde jedoch nie in Betracht gezogen. Dieses neue Konzept, das Jahrhunderte überdauerte, führte dazu, dass sich ein repertoire herausbildete, wo das Profane durch den Kontakt mit gelehrtheit erweitert wurde, wo gregorianik auf ars nova trifft, auf reigen, Virelais und goliarden (Vaganten- und Tanzlieder) und zusammen mit höfischen Liedern ein so opulentes wie unerwartetes Potpourri bil- det. Wir kennen dieses arrangement dank eines wertvollen Manuskripts, dem ergebnis einer Sammlung, die im 14. Jahrhundert vollendet wurde und deren Kopie in der Bibliothek der abtei von Monserrat aufbewahrt wird. Von den ursprünglich 172 handgeschriebenen Blättern sind nur 137 erhal- ten. unter zahlreichen liturgischen und verwaltungstechnischen Doku- menten findet sich auch ein kurzes Liederbuch (f 21v – 27) mit zehn anony- men Liedern. eine notiz zwischen den beiden ersten Liedern präzisiert den Zweck: es soll die Pilger unterstützen, die singen und tanzen und nachts in der Kirche, aber auch im Freien wach bleiben wollen, ( „Quia interdum peregrini quando vigilant in ecclesia Beate Marie de onte Serrato volunt cantare et trepudiare, et etiam in plaatea de die“ ) unter der Bedingung, dass die Lieder dezent und fromm bleiben ( nisi honestas ac devotas cantilenas can- tare ), und wenn darauf geachtet wird, dass diejenigen, die ins gebet oder in stille Kontemplation vertieft sind, nicht gestört werden („ ne perturbent perseverantes in orationibus et devotis contemplationibus“) . nicht so einfach! Passend zu diesem Sammelbecken, das Monserrat darstellte, war einför- migkeit nicht angebracht, weder in der Komposition (vier Monodien gegen sechs 2-, 3-, oder 4-stimmige Polyphonien), noch in ihrer notation (die von Philippe de Vitry um 1315 – 1320 eingeführte notation steht neben der Quadrastnotation der gregorianischen Pergamente), nicht in der Spra- che (liturgisches Latein übersteigt mit acht die anzahl der Lieder (zwei) in Catalan, das dem okzitanischen so nahe ist), noch in den choreogra- phischen optionen (vier Lieder gesellen sich zu reigen, bal a redon auf Katalanisch, Kreistänzen, bei den man sich die Hände reicht). Das ganze zeigt größte Heterogenität von anleihen aus der ältesten Musik bis zu hochmodernen Formen, die mit „entzückend alten“ Wendungen verziert wurden. Diese Heterogenität spiegelt die der Pilger selbst wider, die aus allen Himmelsrichtungen und allen sozialen Klassen durcheinanderge- würfelt und doch brüderlich vereint sind, in derselben einigkeit, die sich, weniger lustig, auf den Totentänzen an den Wänden der Kirchen zeigt, wo die eitelkeit der Lebenden verspottet wird angesichts der Stunde, in der alles Singen und Tanzen endet. Über die Jahrhunderte hinweg behalten die Lieder und Tänze, die in der abteikirche von Monserrat widerhallen, den geschmack des Besonderen. Wir können die Diskrepanz zwischen diesenausbrüchen populärer Musik und den traditionellen gregorianischen gesängen von Mönchen, wie sie auch in Monserrat gepflegt wurden, nicht ermessen, weil Feuer die Schätze der Bibliothek fast völlig vernichtet hat, ganz zu schweigen von den Plün- derungen durch die Truppen napoleons während des Feldzugs von 1811. glücklicherweise befand sich das Manuskript von 1399 zu diesem Zeit- punkt bei einem gelehrten in Barcelona, der es sich zu Studienzwecken ausgeliehen hatte. als es seine nachkommen ein halbes Jahrhundert später den Mönchen zurückgaben, kleideten diese es in Holz und roten Samt. Dieser Tatsache verdankt es auch seinen gegenwärtigen namen Llibre ver- mell de Monserrat . Der Corpus hatte bis zu diesem Zeitpunkt, dem ausge- henden 19. Jahrhundert, so großen ruhm erlangt, dass er als erster Band der neuen Klosterbibliothek registriert wurde und diese somit symbolisch neu gründete. und unter diesem namen, der geradewegs einem roman von Chrétien de Troyes entnommen zu sein scheint, ist dieses außergewöhnliche Doku- ment seither bekannt. So weit einige Informationen, um eine phantastische Legende zu illustrieren. © Philippe-Jean Catinchi Historiker für das Mittelalter Übersetzung: Christina Bergmann Die Pilgerreise zur Schwarzen Madonna Freude und begeisterung Nigra sum sed formosa Im grunde genommen ist das Llibre vermell eine art Handbuch für den erfolgreichen Verlauf der Pilgerreise zur Schwarzen Madonna: es umfasst Bruno Bonhoure 49

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