Tage Alter Musik – Programmheft 2018

54 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 19. Jahrhundert Tradition wurde, ausschließlich a cappella ausführen ließ. und auch zu Fürchte dich nicht, ich bin bei dir BWV 228 sind in einer aus dem Berliner umkreis Carl Philipp emanuel Bachs stammenden Partitur- abschrift Instrumentalstimmen überliefert, die jedoch – da sie nachweislich erst nach Bachs Tod erstellt wurde – allein die Möglichkeit einer vokal- instrumentalen ausführung für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts dokumentiert. Letztendlich steht die historisch-informierte aufführungs- praxis vor dem Problem, dass Bachs Motetten überwiegend als reine Vokalwerke überliefert sind, und zwar vorrangig in handschriftlichen Quellen aus der Zeit nach 1750 und in den beiden Leipziger Partiturdru- cken des späteren Thomaskantors Johann gottfried Schicht von 1802 und 1803. Äußerungen von Musiktheoretikern wie Johann adolph Scheibe oder Johann gottfriedWalther legen ebenso wie Berichte von Zeitgenossen Bachs nahe, dass Motetten eben nicht immer rein vokal ausgeführt wur- den, sondern auch mit Begleitung eines oder mehrerer Continuo-Instru- mente oder von colla parte geführten Bläsern und Streichern, und zwar wohl in abhängigkeit von den jeweiligen auf- führungsbedingungen und vomanlass der auf- führung. Hinsichtlich der vier lediglich vage datierbaren Motetten BWV 225 und BWV 227–229 geht man heute im allgemeinen von einer ähnlichen Bestimmung wie bei Der Geist hilft unser Schwachheit auf aus. Problematisch erscheint diese These vor allem für die Motette Singet dem Herrn , in deren Mittelteil, einer aria mit Choral, in der simultan die dritte Strophe des Kirchen- liedes Nun lob mein Seel, den Herren von Johann gramann (1530) und der arientext Gott, nimm dich ferner unser an eines unbekannten Verfassers vorgetragen werden, zwar durchaus von der Vergänglichkeit des Menschen die rede ist; gerade in den beiden auf der grundlage von Versen aus den Psalmen 149 („Singet dem Herrn“) und 150 („Lobet den Herrn in seinen Taten“) komponierten rahmenteilen steht jedoch eindeutig das jubelnde Lob gottes im Mittelpunkt von Text und Musik. In der Litera- tur wird statt einer Beerdigung als anlass u. a. eine aufführung außerhalb von Leipzig zu neu- jahr 1727 oder zu den geburtstagen der Fürstin Charlotte Friederike Wilhelmine von anhalt- Köthen im november 1726 bzw. augusts des Starken im Mai 1727 in erwägung gezogen. Hinsichtlich des umfangs, der aufwändigen musikalischen gestaltung und der an die aus- führenden gestellten ansprüche gelten alle fünf Motetten als absolute ausnahmewerke. In einer Zeit, in der deutschsprachige Motetten in der regel einfach strukturiert waren und auf einem schlichten, überwiegend akkordischen Satz basierten, zeichnen sich Bachs Kompositionen mit ihrer oft virtuosen, koloraturenreichen Stimmführung, ihrer kunstvollen Kontrapunk- tik und ihrem an der Kantate orientierten mehr- teiligen aufbau durch einen repräsentativen Charakter aus. erwähnenswert ist in diesem Kontext vor allem die einzige fünfstimmige unter den ansonsten doppelchörigen Motetten Jesu, meine Freude , in der Bach zwischen den ein- zelnen Strophen des Kirchenliedes Jesu meine Freude von Johann Franck (1653) einzelne Verse aus dem achten Kapitel des römerbriefes ver- tonte. aus dem mehrfachen Wechsel von can- tus-firmus-freien motettischen Bibelwortverto- nungen und Kirchenliedbearbeitungen ergibt sich eine elfteilige, symmetrisch angeordnete Satzfolge, deren rahmen identische Vertonun- gen der Strophen 1 und 6 und deren exakten Mittelpunkt eine Fuge über „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich“ (röm 8,9) bilden. Wie in allen anderen Werken dieser gattung Vox Luminis 2014 in der Schottenkirche Foto: Hanno Meier

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