Tage Alter Musik – Programmheft 2018

72 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 Insbesondere am französischen Königshof wurde das air de cour gepflegt und diente dort nicht zuletzt zur unterhaltung des Königs und seiner entourage. alle Komponisten, von denen heute Lieder gesungen werden, hatten eine Stelle amHof inne. So zum Beispiel Charles Tessier (um 1565– nach 1610), der sich auf dem Titelblatt seiner beiden Bücher mit airs als „musitien de la chambre du roi“ (gemeint ist König Henri IV. [reg. 1589– 1610]) bezeichnet. Tessier muss aber auch sehr viel in ganz europa gereist sein, wofür allein schon die Widmungsträger seiner Veröffentlichungen sprechen. Das 1597 erschienene Premier livre dedizierte er der englischen adeligen Penelope rich. Sein zweites Buch mit airs de cour erschien in einer ersten auflage 1604 mit einer Widmung an Landgraf Moritz von Hessen-Kassel; die 1610 gedruckte neuauflage widmete Tessier König Matthias von ungarn. In england ist Tessier womöglich John Dowland begegnet, dessen First booke of songs or ayres im selben Jahr wie Tessiers erstes Buch erschien. abgesehen davon, dass beide sich in denselben Mäzenatenkreisen beweg- ten, gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen mehreren Stücken beider Kom- ponisten, was darauf hinzuweisen scheint, dass sie sich gegenseitig inspi- rierten. Tessiers airs de cour zeichnen sich durch lebhafte rhythmen, eine weitgehend syllabische Textdeklamation und eine homophone Textur aus. Sein Œuvre umfasst sowohl populäre airs (wie etwa das tänzerische Je suis par trop longtemps pucelle ) als auch raffinierte Lieder. Dazu zählt auch Me voilà hors du naufrage , das die Liebe mit einer Schifffahrt vergleicht: während das Meer anfangs ruhig ist („La mer est calme et seraine quand nous commençons d’aymer“) und man leicht durch Zephyr vorangetrieben wird, tut sich gerade dann, wenn man die Segel eingeholt hat, eine „tem- peste cruelle“ vor unseren augen auf. Besondere erwähnung verdient schließlich Madonna di coucagna . eindeutig inspiriert von Clément Jane- quins berühmtem Chant des oiseaux , experimentiert Tessier hier für die rufe von Kuckuck, nachtigall und eule mit onomatopoetischen Klängen, die vor allem aufgrund ihrer rhythmik bestechen. Viele air de cour-Komponisten waren selber vorzügliche Sänger. Jedoch führte das interessanterweise nicht zu einer hochvirtuosen Musik, mit der sie glänzen konnten, sondern im gegenteil vielmehr zu Liedern, die durch ihre relative Schlichtheit hervortreten: Der ambitus der Stimme(n) geht selten über die oktave hinaus, die Harmonien sind einfach und es kommen selten Melismen vor. Zwar bot dies den Sängern die Möglichkeit, darüber zu improvisieren, aber das air de cour war in erster Linie eine intimere Form der unterhaltung; es war ein Teil des höfischen Spiels, welches emo- tionen auf kodifizierte Weise kommunizierte. So konnte sich der Sänger und Komponist Pierre guédron (um 1565– 1619/1620) in der Hierarchie der musikalischen Ämter am französischen Königshof hocharbeiten. unter Henri IV. promovierte er vom „Maître des chanteurs de la chambre“ über „Compositeur de la chambre du roi“ bis hin zu „Maître en la musique de la chambre de sa majesté“. als „Surin- tendant des musiques de la chambre du roi“ unter Heinrichs nachfolger Louis XIII. (reg. 1610–1643) hatte guédron schließlich die Verantwortung für die gesamte weltliche Musik am französischen Königshof – im späteren 17. Jahrhundert sollte beispielsweise auch Jean-Baptiste Lully die Stelle innehaben. Von guédron hören wir unter anderem das air de cour Puisque le ciel veut ainsi . es ist wohl keine genuin neue Komposition, denn das schlicht-homo- phone Lied, dessen oberstimme nur den umfang einer Quinte g‘-d“ hat (nur zweimal wird kurz das es“ gestreift), kommt mit einigen Varianten bereits in Sammlungen älterer Komponisten vor, wie etwa in Jehan Plan- sons Airs mis en musique a quatre parties (Paris, 1587) und eustache Du Caur- roys Meslanges (Paris, 1610). Der melancholische Text wird keinem gerin- geren als dem französischen König François I. (1494–1547) zugeschrieben: Das lyrische Ich ist von seiner geliebten verlassen („où estes-vous allés?“) und keiner – nicht einmal die Bäume – beantwortet seine Klage, sodass er mehr Freundschaft findet „dans le cœur des tygres et des ours“.

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