Tage Alter Musik – Programmheft 2018

sein, sondern in einer weiteren Bearbeitung als Violoncellokonzert – und darin zeigt sich das besondere Konzept, nach dem das ensemble atlantique sein Bach-Programm erarbeitet hat: Das Verhältnis von (oft verlorener) originalkomposition und erhaltener umarbeitung wird nicht nur als his- torischer umstand akzeptiert, sondern als anregung aktiv aufgegriffen. Bis auf das Doppelkonzert für zwei Violinen in d-Moll BWV 1043 und das Vio- linkonzert in a-Moll BWV 1041, die in dieser Form als originalkompositio- nen gelten, besteht das Programm aus neubearbeitungen von Bachwerken (oder Teilen davon) für andere Besetzungen, die außerdem in neue dra- maturgische Zusammenhänge gebracht werden. Dem Konzert BWV 1055 ist der Kopfsatz der Sonate für Violine und Cembalo in A-Dur BWV 1015 in einer Bearbeitung für Violoncello und Cembalo vorangestellt und fungiert durch die übereinstimmende Tonart a-Dur als eine art Präludium vor dem schwungvollen Kopfsatz des Cellokonzerts. eröffnet wird das Programm vom ersten Satz der Sonate für Violine und Basso continuo in e-Moll BWV 1023, allerdings in einer Bearbeitung für zwei Violinen und generalbass, transponiert um einen ganzton abwärts nach d-Moll. anstatt den auftakt zu bilden für die ursprüngliche weitere Satz- folge aus elegischem adagio, allemande und gigue, bereitet dieses Prä- ludium auf den vehementen Beginn des Doppelkonzerts in d-Moll BWV 1043 vor. es passt zum übergeordneten ansatz dieses Programms, dass das populäre Werk zwar gängigerweise als originalkomposition für zwei Vio- linen, Streicher und Basso continuo angesehen wird, in jüngerer Zeit aber auch schon für die umarbeitung einer Triosonate gehalten wurde. Lasst uns von einem Konzert träumen, einer Zeitreise in dieses Deutsch- land des 18. Jahrhunderts ... Die Instrumente werden der reihe nach erzählen und singen, in einer musikalischen Sprache, die wie keine andere gefühle ausdrückt. Düfte aus Italien und Frankreich verflechten sich in musikalischen Figuren, die immer neugierig auf der Suche nach neuen Klangfarben sind. Stellen wir uns eine Begegnung mit Bach vor ... es ist so leicht, die Tür einer Familienwohnung zu öffnen, wo jeder Wandermusiker gerne als gast bleiben kann. Diesen edlen und anspruchsvollen Mann zu entde- cken, seine blendende Kunst zu erahnen, verlegen zu bleiben gegenüber geheimnissen, deren Schlüssel er allein besitzt. erfinden wir noch einmal mit ihm diese Kunst, die einzig die Wohlgerüche seiner Zeit in erinne- rung gehalten haben ... Von einem Instrument zum anderen, vom Profa- nen zum Heiligen lasst uns improvisieren und schweben nach der musi- kalischen Intention des großen Bach. Das ist der geist des „imaginären Konzertes“, durch das man die innere Persönlichkeit dieses liebenswerten Mannes und sein außerordentliches genie erspüren kann. Schreibfeder aufs Papier setzen und Musik wieder neu erfinden – J.S. Bach und viele andere taten es im 18. Jahrhundert. Das Wagnis einzuge- hen, sich dem genie des J. S. Bach anzunähern, ist eine großartige erfah- rung; denn schon seine eigenen Transkriptionen sind beeindruckende Beispiele. nach Bachs art muss man Instinkt walten lassen und spontan musikalische Ideen auswählen, um die aktualität und die aufrichtigkeit wiederzufinden, die in der neuerschaffenen Musik zum ausdruck kom- men sollen. Sich in den Körper des erstaufführenden einzufühlen, ermög- licht das eintreten in die Intimität seines Werkes. Die tiefsten Verästelun- gen erscheinen, nichts ist jemals wirklich erstarrt, es wird andauernd weiterentwickelt, und so nimmt man durch diesen kreativen umgang wieder Verbindung mit der Musik der Vergangenheit auf. Zu den ursprüngen der Musik und der Komposition gehört Improvisa- tion. Viele Spuren dieser Kunst des augenblicks sind Bachs Werk eigen, und das Präludium der Sonate für Violine in e-Moll BWV 1023 ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. aufgeführt wird eine Version für zwei gei- gen. Damit wird unser Programm eröffnet, wie auch mit dem berühmten Konzert in d-Moll BWV 1043. Die italienische Stimmung dieses Doppel- konzerts erinnert an die Musik von Vivaldi, die von Bachs umgebung sehr geschätzt wurde. Der erste Satz, in getragenem Tempo, auf Basis eines orchestrierten Trios, nimmt den strengen Charakter der Fuge auf. Die zarten Verflechtungen der geigen im folgenden Largo kontrastieren damit natürlicherweise frei und ausdrucksvoll, wie es besonders in Bachs langsamen Sätzen üblich ist. Der letzte Satz gibt den Solisten die volle Stimme und dem orchester einen leichten, aber immer genau dosierten dynamischen anteil. J.S. Bach widmete einige seiner schönsten Stücke dem Cello - entweder solo oder in Kantaten-arien. als Konzertkomponist standen ihm alle Instrumente zu gebote, so war der Weg frei, sich ein Werk für Cello und orchester vorzustellen. Vorangegangen war die poetische Dolce-Sonate in a-Dur BWV 1015 - ursprünglich für Violine. Das Cembalo-Konzert in a- Dur BWV 1055 verdankt seine leuchtende Tonart dem warmen Klang des Cellos in dieser Transkription. Die ursprüngliche transparente orchestrie- rung eignet sich für unisono mit den Violinen; das ganze erinnert an die konzertante Suite für Viola da gamba von g.P. Telemann. Wenn Virtuo- sität als gast dem ersten Satz innewohnt, passt die Melancholie des zen- tralen Larghetto zum natürlichen Cantabile des Cellos. Mit einer Tanzbe- wegung im Menuett-Charakter endet dieses Konzert, dessen einzigartige Frische es leicht als ein Werk Bachs erkennbar macht. unser imaginäres Konzert lässt raum für die introspektive erzählung der Sinfonia BWV 12 (nach der Kantate „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“), hier für Violine und Streichorchester transkribiert. Diese erzählung im gewande der Musik, basierend auf der barocken Ästhetik, stellt eine Form von austausch direkt zwischen Publikum und Künstler dar. Der Musiker lässt dem ausdruck seiner gefühle freien Lauf und erzählt uns ohne umschweife die Qualen seiner Seele, mal durch seine Musik, mal, vom orchester getragen, in einer Sprache, die nah an der Improvisation ist. Das so eingeführte Violinkonzert in a-Moll BWV 1041 zeigt dann ein ande- res gesicht: die Wörter schießen empor und die Instrumente treten in einen Dialog ein wie die Chöre einer Kantate, die durch einen mächtigen geistigen gedanken belebt sind. Die Harmonien beleuchten und färben das relief, das sich in einem fast theatralischen Dekor der Farben abzeich- net. In der Mitte dieses Programms schenkt uns das andante einen Moment von ruhe und gnade, der durch ein himmlisches Licht verherr- licht wird. Die abschließende gigue – allegro assai – zeigt die rückkehr der dunklen gedanken, der sich der Solo-Part zu entziehen sucht. Bei der Sonate für orgel in g-Dur BWV 530, die nach dem Modell eines Concerto gebaut ist, war es einfach, sie sich in einer orchesterversion vor- zustellen. es musste ein strukturelles gleichgewicht zwischen Tutti und Soli gefunden werden, ohne den ursprünglichen geist des Werkes zu ver- fälschen. um die Wärme der g-Dur-Tonart zu erhalten, wurde das regis- ter einiger Passagen angepasst. aber die einfühlsamste arbeit bestand darin, von grund auf eine Bratschenstimme zu schaffen, die sich in dieses schon vollkommene Trio integriert, natürlich gestützt auf Ideen von Bach. Trotzdem wagt es – oft diskret – die so rekonstruierte Stimme der Brat- sche, sich an mehreren Stellen gleichberechtigt mit den anderen zu unter- halten. Im ersten Satz nimmt sie die motorische rolle ein, die von Bach sehr geschätzt wird als besonders dafür geeignet, die klangliche architek- tur zu verstärken. Die Bratsche übernimmt manchmal aber auch – typisch barock – die rhetorische rolle der gegenstimme zu den anderen Stim- men. Das zentrale Siciliano (Lente) ist nur dem Trio anvertraut, sodass sich die musikalischen Linien im Kontrapunkt frei ineinander verschlin- gen. Die Vereinfachung der Themen lässt noch heller die fabelhaften ursprünglichen Verzierungen von Bach erstrahlen, die in den Wiederho- lungen interpretiert werden. Im dritten Satz schließt sich die Bratsche im Kanon den Bässen für eine Spiegelchoreographie in zwei Paaren an: zwei geigen einerseits, Bratsche und Bässe andererseits. Anmerkungen von Guillaume rebinguet Sudre Leiter des Ensembles Baroque Atlantique 80 T age a LTer M uSIK r egenSBurg Mai 2018 Guillaume Rebinguet Sudre

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