Tage Alter Musik – Programmheft 2019

24 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 3 anspruchsvollere Musik war deshalb der gam- benfamilie vorbehalten, welche eine prominen- tere Rolle in der Musik am Hof innehatte. Sowohl der überwältigende erfolg von arcan- gelo Corellis (1653–1713) Violinsonaten als auch die auftritte von italienischen Virtuosen in Frankreich regten französische Komponisten – oder sonatistes – dazu an, für die Violine zu schreiben. Das ansehen dieses Instruments stieg, bis es schließlich sein goldenes Zeitalter erreicht hatte und am ende mit der Beliebtheit der neuen Sonatenform in sich zusammenfiel. Daraus ergaben sich leidenschaftliche Diskus- sionen zwischen Befürwortern des italienischen Stils und französischen Puristen. Diese Polari- sierung führte dazu, dass die gamben mit einem gewissen ancien-Régime-Konservatismus asso- ziiert wurden, wohingegen geigenspielende Ita- liener sich selbst für modernere Freidenker erachteten. aufgrund ihres frühen ansehens als „niederes Instrument“ war die geige ungeeignet für auf- tritte von Mitgliedern der französischen oberschicht, vor allem für adelige Damen – ein Vorurteil, das sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hielt. Die Verfechter des älteren französischen Stils blieben der traditionellen gambenpraxis treu. Viele von ihnen taten sich durch ihr Spiel der Bass- gambe oder des dessus hervor, und so war der Wechsel zum pardessus viel einfacher, als sich an einer ganz neuen Instrumentenart wie der Violine zu versuchen. aufgrund seines Tonumfangs ermöglichte die Beherrschung des pardessus einen leichteren Zugang zu dem wachsenden Violinenre- pertoire, und so ist er bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zur „Violine der Frau“ geworden. So schrieb François-alexandre-Pierre de garsault im Jahre 1761: „Frauen spielen fast nie die Violine, während der pardessus de viole ihren Platz einnehmen kann, da man in der Lage ist, auf ihm fast alles zu spielen, was auf einer Violine ausgeführt werden kann“ . gamben waren besonders bei Frauen beliebt und gehör- ten zusammen mit der Laute, der Harfe und dem Cembalo zur Kategorie der „femininen Instrumente“. Sozial gesehen ermöglichten es diese Instrumente, ein würdevolleres Verhalten gemäß den anstandsregeln beizubehalten: „…Frauen sollten die Diskantgambe mit fünf Saiten spielen und niemals die Violine, da die Position, in der die Violine gespielt werden muss, in keiner Weise für sie angemessen ist. Während ihre Hände zu klein sind, um sie zu halten, erfahren sie zudem endlose Qualen beim erreichen der hohen Positionen […], was einfach und ohne einen Wechsel auf der ersten Saite des Quinttons auf dem pardessus de viole mit fünf Sai- ten ausgeführt werden kann“ (Michel Corrette, c.1748). Frauen würden außerdem an Flecken am Hals leiden, welche durch ein regelmäßiges Üben verursacht würden, und noch dazu könnte die art, wie ein da braccio- Instrument gespielt wird, den aufwän- digen und kostspieligen Frisuren schaden. Mit der Zeit konnte beobachtet werden, wie das Instrument auch jenseits des adels an Beliebtheit gewann, und musikalische abbildungen aus dieser Zeit belegen, dass sich bürger- liche Frauen des Spiels annahmen, was ein breiteres Interesse für das Instrument zeigt. ein Repertoire, das speziell für den pardessus komponiert wurde, tauchte erstmals in den 1720er Jahren auf. Die einführung eines fünfsaitigen par- dessus in den 1730er (oder 1740er) Jahren führte zu einer Phase der großen Popularität dieses Instruments (1730–1770). Der pardessus wurde während dieser Zeit einer Reihe von Veränderungen unterworfen: Die entfernung einer Saite, eine Verengung des Resonanzbodens und weitere Überarbei- tungen des Halses ließen das erscheinungsbild dem einer Violine ähnlich werden, wobei eine deutlichere gemeinsamkeit jedoch in der Stimmung der Instrumente zu finden ist: von der tiefsten zur höchsten Saite g-D-a- D-g beim fünfsaitigen pardessus und g-D-a-e bei der Violine. Die Stim- mung in Quinten über den tiefsten drei Saiten des pardessus förderte die Zugänglichkeit des Instruments zum Repertoire der Violine. obwohl das entfernen einer Saite nicht den Tonumfang des Instruments veränderte, befreite es den Resonanzboden von erheblichem Druck, was zu einem resonanteren, reineren und flötenähnlichen Klang führte. Die Verbindung zwischen dem pardessus und der Violine zeigt sich deutlich in Publikatio- nen, die auf die austauschbarkeit des einen Instruments mit dem anderen hinweisen. Zu dieser Zeit sehen wir einen gewaltigen anstieg an idioma- tischen Werken für den fünfsaitigen pardessus . Der sechssaitige pardessus blieb gleichwohl noch für viele Jahre in gebrauch, obwohl seine Stimmung, welche eine große Terz beinhaltet, unpraktisch ist, wenn „originale“ Vio- linmusik gespielt werden soll. In den frühen 1760er Jahren wurde ein viersaitiger pardessus mit dem Ziel entworfen, violinistische effekte perfekt zu imitieren. obwohl kein exemplar überliefert ist, gibt es Hinweise darauf, dass es einfach eine Violine war, die vertikal gehalten wurde. Posuelde Verneaux berichtete 1766: „In Paris spielen viele Leute den pardessus de viole mit vier Saiten. Die Fingertechnik und die Stimmung sind ähnlich wie bei einer Violine […]“. In den 1770er Jahren schrieben französische Komponisten weiterhin für den pardessus , bis das Instrument am ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr im gebrauch war. Rückblickend betrachtet führte die äußere Ähnlichkeit des pardessus zur Violine zum Verlust seiner eigenart und infolgedessen seiner raison d’être. gleichzeitig wurde das Instrument in öffentlichen Konzerten immer weni- ger favorisiert, wodurch es in die Salons verdrängt wurde. Letztendlich beschleunigte der offene Umgang mit dem Spiel von da braccio -Instru- menten und ihre Verwendbarkeit für die gehobene gesellschaft den Olga Martynova, Ägidienkirche 2006 Charles Dolle: Sonates a deux pardessus de violes

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