Tage Alter Musik – Programmheft 2019

83 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 15 unter anderem von Paul gerhardt. aus dem Text der siebten Kantate Ad faciem : Salve, caput cruentatum, totum spinis coronatum schuf gerhardt in seiner Übersetzung das berühmte Lied O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt zu Spott gebunden mit einer Dornenkron, das wir ja auch aus Bachs Matthäus-Passion kennen . In dieser Zeit entwi- ckelte sich in der protestantischen Kirche eine neue Innerlichkeit, die in ihrer schwärmerischen Inbrunst manchemmittelalterlichen Mystiker nahe war. Viele Dichter verbanden die Liebe zum erlöser, die nicht selten in einer quasi erotischen Sprache ausgedrückt wurde, mit einer Todessehn- sucht, die aus der Identifikation mit dem Leiden des erlösers erwächst. Die Doppelbedeutung des Wortes Passion als »Leiden« und als »Leiden- schaft« wird ausgekostet. Die anzahl der sieben Kantaten ist sicher mit Bedacht gewählt, sie erinnert an die Sieben Worte des erlösers am Kreuz. Buxtehude verwendet die Zahl sieben auch in anderen Kompositionen ( Die Natur oder die Eigenschaft der Planeten ). alle Kantaten haben einen vergleichbarenaufbau: nach einer instrumentalen einleitung folgt eine als Chorsatz oder Terzett gesetzte Vertonung eines Bibelwortes. Danach folgen drei Strophen der Rhythmica oratio in Form von arien oder Solistenensembles. Meist bauen sie auf der gleichen Bassstimme auf und werden durch instrumentale Zwischenspiele verbunden. am Schluss wird der eingangschor wiederholt. nur die letzte Kantate ersetzt diese Wiederholung durch einen großen amen-Chor. Wer die einleitenden Bibelworte zusammengestellt hat, wissen wir nicht. Meist wird in ihnen der Körperteil genannt, der der Kantate den Titel gibt. obwohl es um die Leidensgeschichte geht, sind alle Bibelworte (mit aus- nahme dessen der fünften Kantate) demalten Testament entnommen. Die fünfte Kantate, die den Titel Ad pectus (an die Brust) trägt, beschreibt die Brust nicht nur als Körperteil Jesu, sondern auch als Sinnbild für den Sitz der göttlichen Liebe und schließlich auch als nährende weibliche Brust. Die Vielschichtigkeit der Bilder lässt sich nicht auf einen Blick erfassen, sie regt zur Meditation an. Den inbrünstig-sinnlichen Charakter unter- streichen die Bibelworte der Kantaten IV und VI, die dem Hohelied ent- nommen sind und keinen direkten Bezug zu den nachfolgenden Strophen der Rhythmica oratio haben. Dieser sinnliche und besinnliche Charakter findet sich vollkommen im Stil der Vertonung wieder. Buxtehude greift selten die Bilder des Textes auf. Die barocke affektenlehre und rhetorische Regeln, wie wir sie aus Vokal- kompositionen etwa von Heinrich Schütz oder Johann Sebastian Bach ken- nen, spielen hier so gut wie keine Rolle. es ist der geist der Strophen, den er aufgreift. Manchmal ist die Musik zwar voller Dissonanzen, diese drü- cken aber weniger den Schmerz des sterbenden erlösers am Kreuz aus als die Glaubens-Lust der gläubigen. Johann Sebastian Bach, Gemälde von Elias Gottlieb Haussmann, 1746 Erste Seite des Original-Manuskripts „Ad pedes“ in Tabulatur-Notation Titelseite von Buxtehudes „Membra Jesu Nostri“, Universitätsbibliothek Uppsala

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