Tage Alter Musik – Programmheft 2019

84 T age a LTeR M USIK R egenSBURg Konzert 15 Die gefühle der Menschen sind nicht so schnel- len Veränderungen unterworfen wie ihre gedanken und Worte. So sind die Texte der Rhythmica oratio im Laufe der Jahrhunderte den meisten Menschen immer fremder geworden. Die Musik aber, zu der sie Buxtehude inspiriert hat, hat immer noch die Kraft, intensive gefühle beim Zuhörer hervorzurufen – gefühle, für die den meisten die passenden Worte fehlen, aber deren beruhigende Innerlichkeit auch die Sehn- süchte unserer Zeit trifft. Dagegen gehört Nach dir, Herr, verlanget mich (BWV 150) zu denjenigen Bach-Kantaten, die nur sehr selten aufgeführt werden. gründe dafür liegen nicht in der Qualität des Werks, sondern vielmehr darin, dass wir uns vor allen Dingen auf die Werke, die in Leipzig kompo- niert und aufgeführt wurden, konzentrieren – genauso wie wir bei der Betrachtung seiner geistlichen Werke dazu tendieren, seine welt- lichen Kantaten zu vernachlässigen. Nach dir, Herr ist vermutlich die früheste erhal- tene Kantate Bachs, die er mit Sicherheit unmittelbar im anschluss an seine Zeit in Lübeck komponierte. Dabei ist es aus stilisti- scher Perspektive von besonderem Interesse, wie nahe die musikalische Sprache in diesem Werk dem Idiom von Bux- tehude kommt. Der wohl auffälligste aspekt dabei findet sich imaufbau des letzten Satzes von BWV 150: eine fantastische, wunderbare und doch einfache Chaconne, die sich formal an den vielen Beispielen von Buxtehude orientiert. Darunter ist allen voran der ostinato-Bass zu nennen, der sehr häufig von Komponisten des 17. Jahrhunderts benutzt wurde – und Bux- tehude beherrschte diese Technik wie kaum ein anderer. Im 18. Jahrhun- dert wurde das ostinato immer seltener gebraucht, wodurch auch seine einfachheit verlorenging. ein Blick in die kunstvolle und berühmte Cha- conne für Violine oder die majestätische orgel-Passacaglia von Johann Sebastian Bach genügt, um die himmelweiten Unterschiede zu erkennen. Die Chaconne des 17. Jahrhunderts konzentriert sich imallgemeinen auf den magischen, ja fast hypnotischen effekt der sich repetierenden Basslinie: sie entwickelt sich formal fast gar nicht, dagegen bestechen fantastische Variationen im stetig wiederholten Thema. Diesbezüglich ist die Chaconne am ende von Nach dir, Herr unikal in Bachs Schaffen zweifelsohne ein Tri- but an Buxtehude, mit dem ihn eine fruchtbare Zusammenarbeit in Lübeck verband. Schon bald nach diesemWerk wandte sich Bach schließlich davon ab und entwickelte seine ganz eigene, einzigartige und komplexe Ton- sprache. © Fabio Bonizzoni Übersetzung: Theresa Henkel, UR Antonio Campi: Das Geheimnis von Jesu Passion, Auferstehung und Himmelfahrt, 1569 La Risonanza, Nuria Rial, Sopran, Minoritenkirche 2009 Foto: Hanno Meier

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