Tage Alter Musik – Programmheft 2020

15 T age a LTeR M uSIK R egenSBuRg Konzert 3 Sein name verweist auf Limburg, doch sein Familienname „Vinandi“ würde auf eine Her- kunft der Familie aus Baelen hinweisen, das wenige Kilometer von der kleinen Stadt Lim- burg entfernt liegt. ein „Johannes de Lymbur- gia“ taucht auch in Lüttich ab dem ersten Jahr- zehnt des 15. Jahrhunderts auf, u.a. in den Ver- zeichnissen der Kirche Saint-Jean-l’Évangéliste, wo er 1408 nachfolger des Cantors Wilhelmus Chiwogne wird, eines Familienmitglieds des Lütticher Komponisten Johannes Ciconia. nach seiner ernennung zum Bastonarius (Vorsitzen- den) in den Kirchen Saint-Jean und Saint-Paul wird derselbe Mann 1426 zum Succentor (zum Chorherrn, der den Kinderchor der Stiftskirche leitet) befördert. In der Zwischenzeit wird unser Sänger-Komponist in Italien erwähnt, genauer gesagt in Padua, wo er im oktober 1424 unter dem namen „giovanni di Francia cantore“ ein Benefizium erhält (Pfründe für einen gottes- dienst haltenden geistlichen). Von dort folgt er 1427 Pietro emiliani bei der Verlegung von des- sen Residenz nach Vicenza. es ist also möglich, dass es zwei Sänger mit dem gleichen namen gab, oder aber eine einzige Person – deren Kar- riere länger andauerte – hat enge Beziehungen und Kirchenfunktionen in Lüttich aufrechter- halten. Wie dem auch sei, Johannes de Lymbur- gia wurde in Vicenza, wo er wahrscheinlich mit der musikalischen ausbildung von drei jungen geistlichen im Bereich des polyphonen gesangs (cantus figuralis) imoktober 1431 beauftragt war, im Jahr 1432 zum „Mansionarius et tenorista“ ernannt, d.h. zum Verantwortlichen für die Ver- waltung der Kirche und zum Vorsänger, der in der Polyphonie die Funktion des Tenors inne- hatte. Zwar verlieren wir seine Spur in Italien nachapril 1435, doch das archiv der Stiftskirche notre-Dame in Huy – einer Stadt, die dem Für- stentum Lüttich untersteht – erwähnt 1436 einen Chorherren gleichen namens. Das Manuskript Q15 aus Bologna ist ein persön- liches Projekt und wurde von einem unabhän- gigen Herausgeber und Sammler, der sich mit den polyphonen Feinheiten des beginnenden 15. Jahrhunderts bestens auskannte, über fünfzehn Jahre hinweg verwirklicht. Zwar enthält diese Sammlung im ganzen zuverlässige, genaue Übertragungen, die Werke von Johannes de Lymburgia sind jedoch in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst richteten der Säurege- halt der verwendeten Tinte sowie eine schlechte Restaurierung im Jahr 1927 bedeutende Schäden an, was die Lesbarkeit stark beeinträchtigte. So wurde die Motette Gaude felix Padua zum Bei- spiel für unlesbar gehalten, bis Julia Craig- McFeely und Margaret Bent digitale Mittel mit ihrer Kenntnis des Repertoires kombinierten und so eine Transkription erstellten, die unserer Interpretation als grundlage diente. ImÜbrigen scheint die Überlieferung eines Teils der Werke von Lymburgia viele Irrtümer zu enthalten. Im gegensatz zu früheren annahmen können weder Beltrame Feragut noch Johannes de Lym- burgia für die Zusammenstellung des Manus- kripts Q15 verantwortlich sein. Diese arbeit wurde von einer noch nicht identifizierten Per- son durchgeführt, die in den gleichen Kreisen verkehrte und einen privilegierten Zugang zur Musik der vorangehenden Jahrzehnte hatte. Im unterschied zu den Werken Dufays und Cico- nias scheinen jene von Lymburgia nicht sehr sorgfältig redigiert worden zu sein. außerdem weisen einige seiner Stücke eine in ihrer art ein- malige, ja sogar experimentelle Kompositions- weise auf. Das einzige vierstimmige Magnificat dieser Komponistengeneration ist ein Beispiel für diese Klangerforschung: Lymburgia verwen- det die Kombination von zwei Stimmlagen – zwei oberstimmen (Cantus 1 und 2) und zwei unterstimmen (Tenor und Contratenor) – so, dass durch eine gegenüberstellung kontrastie- render harmonischer Funktionen stark disso- nante Fortschreitungen entstehen. es wurde in der Vergangenheit bereits vermutet, dass das Stück eigentlich dreistimmig konzipiert war – unter alternativer Verwendung von Contratenor oder Cantus 2. eine genaue untersuchung des Kontrapunkts zeigt jedoch, dass vier Stimmen von anfang an für das Stück vorgesehen waren. Der sich daraus ergebende eigenartige Klang (die aufeinanderfolge eines akkords einer gro- ßen Septim und einer Quint-oktav), der uns zunächst verwirrte, wurde uns mit der Zeit jedoch vertraut und erwies sich letztendlich sogar als charakteristisch für Lymburgias Musik. Die Region um Venedig war das Hauptzentrum für die entwicklung der Motette im 14. Jahrhun- dert. Dieser bis 1440 noch sehr präsenten Tradi- tion war Lymburgia verbunden und hinterließ uns 13 Motetten, von denen einige politischen Charakter haben, andere geistlich sind und Maria oder die Heiligen loben. Gaude felix Padua preist antonius von Padua und seine Stadt, während die Texte von Descendi in ortum meum und Tota pulchra es aus dem Hohelied stammen und bei Marienprozessionen oder Hochzeits- feiern als antiphon verwendet werden konnten. Die Musik von Descendi in orum meum wird von einer oberstimme angeführt, die die gregoria- nische antiphon für das (am 8. September gefeierte) geburtsfest Marias paraphrasiert und mit einem dreiteiligen Noema endet, in dem das Wort „alleluia“ viermal mit jeweils einem akkord pro Silbe erklingt. Das vierstimmige Tota pulchra es erinnert mit seiner melismati- schen einleitung in genauer Imitation, die nach- einander die beiden oberstimmen vorstellt, an bestimmte Motetten von Johannes Ciconia. In der Mitte der zweiten Hälfte des Stücks wird der rhythmische Diskurs plötzlich unterbrochen, um das Wort „veni“ hervorzuheben, das von den vier Stimmen so gesungen wird, als wären sie vom rhythmischen Puls entkoppelt. Dann beginnt der kontrapunktische Fluss von neuem, ummit den Worten „et macula non est in te“ zu Baptiste Romain, Vielle & Leitung Foto: Jean-Baptiste Millot Jacob Lawrence, Tenor Roman Melish, Altus

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