Tage Alter Musik – Programmheft 2020

38 T age a LTeR M uSIK R egenSBuRg Konzert 7 an den Modi orientierte Inhaltsstrukturierung (vgl. Tabelle 1). Cipriano scheint einer der ersten Komponisten gewesen zu sein, die es verstanden, die mit dem Modussystem verbundenen Konzepte, die ursprünglich im Hinblick auf einstimmigen gesang erdacht wurden, auf mehrstimmige Musik anzuwenden. Das von ihm entworfene und in diesem Druck eta- blierte Modell übernahmen im restlichen Verlauf des Jahrhunderts auch andere Komponisten wie Palestrina und Lasso. es ist somit deutlich geworden, dass die Texte in dem 1542 erschienen Druck sorgfältig angeordnet und gleichsam die verwendeten Modi sorg- fältig ausgesucht wurden. De Rore brachte nicht einfach eine zufällige auswahl von Madrigalen, die er bereits zur Hand hatte, in eine nach Modi organisierte Reihenfolge. ebensowenig erfolgte die Zuweisung eines Modus zu einem Text ohne die Berücksichtigung des größeren Kontexts. anscheinend wählte er vielmehr bei der Vertonung der einzelnen gedichte die dafür verwendeten Modi im Hinblick auf den für das ganze Buch gefassten Plan aus. Die 17 gedichte (eine einleitende ballata und 16 Sonette) bilden zusammen mit ihrer musikalischen umsetzung einen bisher nicht erkannten dichterischen und musikalischen Zyklus. Mithilfe seiner außergewöhnlich guten Beherrschung der italienischen Sprache und seinem tiefen Sinn für Poesie drückte De Rore durch den Bezug zumModussystem den spezifischen gehalt der Texte aus. Die erste Hälfte des Zyklus (nr. 1–9) kann inhaltlich als ausdruck von Liebes- schmerz verstanden werden und ist in Modi mit Moll-Charakter gesetzt. Dagegen weist die zweite Hälfte (nr. 10–17) Modi mit Dur-Charakter auf und handelt von der Resignation des Dichters, ausgelöst durch den Verlust seiner geliebten und seinemVersuch, sie auch nach ihrem Tod noch gegen- wärtig zu behalten. Für die anwendung der modusorientierten Konzep- tion brauchte Cipriano eine gedichtsammlung, die durch ihre anordnung ein übergeordnetes narrativ ermöglicht. es ist schwer vorstellbar, dass ein Komponist eine solche Sammlung ohne weitere Hilfe zusammenstellen würde. Denkbar wäre zum Beispiel, dass giovanni Brevio (ca. 1480–1560), ein venezianischer Priester und Dichter, der das erste und letzte gedicht des Zyklus verfasste, De Rore dabei geholfen hat. Die aufgabe, die Texte so zu ordnen, dass sie sich zu einer übergreifenden Handlung verbinden, welche dann musikalisch durch die Modusabfolge ausgedrückt werden kann, war wohl das Resultat einer engen Zusammenarbeit von Dichter und Komponist. I madrigali a cinque voci wurde längst als ein Meilenstein der Musikge- schichte anerkannt, doch ist die darin enthaltene Musik, die einer unge- Cipriano de Rore: Madrigale 1542, Titelseite Cantus

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