Tage Alter Musik – Programmheft 2020

76 T age a LTeR M uSIK R egenSBuRg Konzert 15 ob Kompositionen wie diese ihren Weg in die Programme der Lübecker abendmusik gefunden haben, ist schwer zu sagen. Wenn Buxtehude tat- sächlich Werke anderer Komponisten integrierte, so wäre die Wahl des befreundeten Reincken aus der nachbarstadt Hamburg zumindest nahe- liegend gewesen. Immerhin sind beide auf einem 1674 entstandenen grup- penbild des niederländischen Malers Johannes Voorhout, einträchtig nebeneinander musizierend, dargestellt: Reincken amCembalo, Buxtehude (wahrscheinlich) an der gambe. Wenn das vierte Stück in d-Moll aus Reinckens Hortus musicus im Konzert des „ensemble La Rêveuse“ mehreren Vokal- und Instrumentalkomposi- tionen Buxtehudes gegenübergestellt wird, dann ist darin trotzdemweni- ger die dokumentarische Wiederbelebung eines historischen Programms zu sehen als vielmehr eine Repräsentation norddeutscher Kompositions- weise des ausgehenden 17. Jahrhunderts, eingebettet in den Rahmen einer virtuellen Lübecker abendmusik. In einen solchen Zusammenhang ließe sich auch Johann Philipp Förtsch integrieren. geboren 1652 im fränkischen Wertheim, absolvierte er ein Medizin- und Jurastudium in Jena und erfurt und fand nach mehrjähriger Reisetätigkeit 1674 eine Stellung als Kantoreisänger in Hamburg. als vier Jahre später das opernhaus am gänsemarkt eröffnet wurde, verdingte sich Förtsch zuerst als Libretto-Übersetzer, später auch selbst als Kompo- nist. Insgesamt sind von ihm 12 deutschsprachige opern bekannt, die zwi- schen 1684 und 1690 in Hamburg zur aufführung kamen, von denen aller- dings nur einzelne arien separat überliefert sind. Förtschs geistliches Kon- zert Aus der Tiefe ruf ich, Herr, zu Dir , das inmitten des Buxtehude-Rein- cken-Programms einen Platz gefunden hat, wurde möglicherweise wäh- rend seiner Zeit als Kapellmeister in gottorf komponiert, wo er ab 1680 unter politisch wechselhaften Bedingungen in Diensten des Herzogs Chris- tian albrecht stand. unter einem „geistlichen Konzert“ ist in diesem Fall eine Komposition für solistische Singstimme – hier eine durchkomponierte Vertonung des 130. Psalms – in mehreren kontrastierenden abschnitten über generalbassmäßig begleitendem Instrumentalapparat zu verstehen. Dieser kann in Vor- und Zwischenspielen und außerdem in obligaten Kontrapunktstimmen zur gesangspartie auch größere eigenständigkeit entfalten. Die musikalische Darstellung undausdeutung des Psalm-Wort- lauts – von eher plakativen effekten bis hin zu subtilen nuancen – ist eine typische Facette des Vokalstils dieser gattung. auch Buxtehudes Vokal- werke im Programm des „ensemble La Rêveuse“ sind Realisierungen die- ser Kompositionsweise und bewegen sich mit ihrem einfachen aufbau in einem schwer aufzulösenden Übergangsbereich zwischen geistlichem Konzert und früher „Kantate“. Förtsch gab 1689 sein gottorfer Kapellmeisteramt wieder auf und wandte sich vollends einer Karriere als arzt zu, die ihn schließlich an den Hof des Bischofs zu eutin gut 30 Kilometer nördlich von Lübeck brachte. Musika- lische ambitionen scheint er als Hof- und später Leibarzt freilich nicht mehr verfolgt zu haben. Bis dahin aber hatte sich Förtsch durchaus in mehrfacher Hinsicht – nicht nur in geographischer – im weiteren umfeld der Lübecker abendmusiken bewegt. Da ist zum einen seine Versiertheit in der gattung des geistlichen Konzerts und im Bereich dramatischer Musik, zum anderen seine erfahrung als Libretto-Übersetzer. und auch wenn eine direkte Verbindung zu den abendmusiken nicht herzustellen ist, lässt sich doch immerhin ein Christian august Förtsch (1731–1785), vermutlich ein enkel des Komponisten und arztes, 1762 als Textdichter einer Lübecker abendmusik nachweisen. Wenn wir also schon nicht davon ausgehen dürfen, dass zum ende des 17. Jahrhunderts die Musik Buxtehudes, Reinckens und Förtschs gemein- sam in einemwinterlichen Konzert der Marienkirche erklungen ist, so las- sen sich die drei doch mit einigem Recht in einer frühsommerlichen, ima- ginierten abendmusik des Jahres 2020 zusammenbringen. © Michael Braun, UR CD: La Rêveuse – Buxtehude – Sonates en trio – Manuscrits d’Uppsala CD: La Rêveuse – Buxtehude – Cantates pour voix seule – Manuscrits d’Uppsala Allegorie auf die Freundschaft von Johannes Voorhout, 1674. Am Cembalo sitzend Johann Adam Reincken, links daneben vermutlich Buxte- hude an der Viola da gamba

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