Tage Alter Musik – Programmheft 2022

15 TAGe ALTeR MUSIK ReGenSBURG Konzert 2 Wie seine Zeitgenossen in ihren Messen, darunter Henry Frémart (†1651), Leiter des Knabenchors der Kathedrale von Rouen und Kollege von Titelouze von 1611 bis 1625, legte auch Titelouze bei seinen Kompositionen Wert auf die musikästhetischen Grundsätze der Gegenreformation. Da sein Stil aus dem franko-flämischen Kontrapunkt hervorgegangen ist, sind die Imitationen kurz und die Überlagerung der Stimmen behindert in keiner Weise das Verständnis durch eine silbengebundene notation: so sehr achtet Titelouze auf die Klarheit des Vortrags und die Kontinuität des Textes. Die Worte werden selten wiederholt und die freien Imitationen so kurz komponiert, dass sie den Gottesdienst nicht in die Länge ziehen und ein beständiges Fließen erlauben. Aber Titelouze überhöht diese Charakteristika: neben den Zwängen, die der Kultus auferlegt, „sind [diese Messen] die Illustration eines neuen Kunstgeschmacks durch den einfluss der Humanisten, der – was Betonung und Textverständnis angeht – vor allem von Gioseffo Zarlino vertreten wurde“.1 So entspricht das Zeichen C für den 4/4-Takt einem geschmeidigen, anpassungsfähigen Tempo, wie es bei der Missa Cantate der Fall ist. Andere, besonders charakteristische Passagen sind im 3/4-Takt, um die Feierlichkeit des Textes hervorzuheben. Geprägt durch ein eindrucksvolles Verhältnis zwischen Text und Musik, durchdringt diese Messe in der Tat ein neuer Stil, dessen rhetorische Wirkung nicht zuletzt in der gezielten Bindung von musikalischen Motiven an besondere Textpassagen entfaltung findet. So ist etwa im Credo die Passage, die die erwartung an die Auferstehung von den Toten beschreibt – et expecto ressurrectionem –, durch eine Generalpause markiert, mit der in atemloser Stille diese Hoffnung illustriert wird. Auch homophone – et incarnatus est – oder vierstimmige Passagen – Christe, Benedictus – betonen die eindringlichkeit der Botschaft. Titelouze ist der einzige französische Organist dieser epoche, der für Chöre komponiert hat. Da er aber Organist ist, macht sich der einfluss dieses Instruments in vielen Passagen bemerkbar. So z. B. im Sanctus der Missa Cantate, wenn die abwärtslaufende dorische Tonleiter in den Bass (D) mit einem langen Wert den Gebrauch des Pedals erfordert; an anderen Stellen finden sich auch langanhaltende Werte auf der modalen Dominante oder dem Schlusston. Die „meslanges“ (Mischung) der Stimmen und der Instrumente Wie es in dieser Zeit üblich war, wurden auch die Messen von Titelouze als Chorbücher herausgegeben: die Chorstimmen sind vis à vis auf den jeweils gegenüberliegenden Seiten gedruckt; das Fehlen der Instrumentalnotation und des Generalbasses erweckt den eindruck, dass sie für a cappella-Chöre bestimmt sind. Die Partituren selbst legen aber nichts dergleichen explizit fest.2 Der Komponist oder der musikalische Direktor arrangierte und verteilte die Stimmen und die Instrumentierung je nach den Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen. Die Partitur, die wir verwenden, könnte ein „Anreiz sein, eine ziemlich beeindruckende Aufführung zu wagen“, wie es ende des 17. Jahrhunderts der Komponist Léonard Gontier formulierte. Wir haben uns entschlossen, Instrumente mit den Singstimmen colla parte („Verdoppelung“) einzusetzen: den Zink imCantus, das Serpent im Bassus, da beide Instrumente im 17. Jahrhundert in den Kathedralen im Gebrauch waren. In Rouen findet man ihre Spuren in den Hauptregistern der Orgel und in den Kontobüchern der Kathedrale. Dazu kommen erzposaunen, die die Mittelstimmen verdoppeln. In den Kirchenbüchern von Rouen findet man am 1. Januar 1624 folgende notiz: „M. Le Pigny, Kanonikus, stellt der Gemeinde eine erzposaune vor, die er aus Reims mitgebracht hat für den Gebrauch in der Kirche.“ Mit den Singstimmen setzen wir weder Orgel noch basso continuo ein. Obwohl diese Praxis in der damaligen Zeit in Frankreich vorkam, tritt ein basso continuo erst später, etwa in den Drucken der Pathodia sacra et profana von Huygens (1647) und der Cantica Sacra von Henry Du Mont (1652) auf. es ist auch ziemlich unwahrscheinlich, dass die Missa Cantate mit basso continuo gespielt wurde: Der kontrapunktische Stil hebt die Unabhängigkeit der Singstimmen hervor und wird durch Instrumente, die sie verdoppeln, stärker betont als durch eine eigenständige instrumentale „Begleitung“. Selbst innovative Komponisten wie Charles d´Ambleville oder nicolas Formé, die zwischen 1636 und 1638 publizierten, sahen in ihren Werken noch keinen basso continuo vor. …für eine besondere Klangfarbe Folgt man Zarlinos Abhandlung Le Istitutioni Harmoniche (neuauflage 1571), in der er die Kirchentonarten von C ausgehend klassifiziert, so steht die Missa Cantate im elften, äolischen Modus. Titelouze richtete sich wie die meisten französischen Komponisten zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach diesem nummerierungsschema, wenn sie sich nicht explizit auf die acht Kirchentonarten bezogen. Die Missa Cantate hat, auf dtransponiert, ihren eigenen, charakteristischen Stil, den wir mit unserer entscheidung über Stimmfarben und passende Instrumentierung unterstreichen wollten. Sie ist für sechs Stimmen geschrieben mit Chiavette, d. h. für hohe Singstimmen. Wir haben uns dafür entschieden, die Höhe beizubehalten und nicht zu transponieren, was zu der damaligen Zeit möglich gewesen wäre. Damit wollten wir den strahlenden Klang wahren, der unter anderem durch den einsatz von zwei Sopranstimmen hervorgerufen wird – dem Cantus und der Sexta vox –, deren Melodieführung sich überschneidet. Die colla parte-Praxis (jede Singstimme wird von einem Instrument verdoppelt) mit zwei Zinken, drei Posaunen und einem Serpent unterstreicht diese strahlende Polyphonie. Man kann zweifellos behaupten, dass TiteLudwig XIII., Philippe de Champaigne (1602–1674) 1 Vorwort von Jean-Yves Haymoz zur Ausgabe der Messen von Titelouze (Titelouze (Titelouze (La Sinfonie d´Orphée, Collection L´atelier des maîtrises) 2 In dieser Frage zu a cappella-Messen nehmen wir Bezug auf die Arbeiten von Denise Launay, Jean-Charles Léon und die Wissenschaftler des Centre de Musqiue Baroque de Versailles

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