Tage Alter Musik – Programmheft 2022

69 TAGe ALTeR MUSIK ReGenSBURG Konzert 14 gebung der Sünden) als auch Prozessionen bei großen religiösen Festen. Laienbewegungen werden ins Leben gerufen, deren Mitglieder ihr Leben der Wohltätigkeit, der Armut, der Bibellektüre, dem Predigen und dem Bettelwesen im städtischen Milieu weihen (man denke dabei an die „Armen von Lyon“, auch Waldenser genannt, die um 1170 von dem Kaufmann Pierre Valdès gegründet wurden). Auch Frauen gründen neue Arten von religiösen Gemeinschaften, die auf einem gemeinsamen städtischen, nichtklösterlichen Leben basieren und das vor allem dem Dienst an den Armen gewidmet ist (hier denke man vor allem an die Beginen im norden). All das wurde von den kirchlichen Institutionen mit Argwohn betrachtet. Kurz: es gibt in dieser Zeit viele Anzeichen dafür, dass sich Laien in einem christlichen Leben einrichten wollten, das sie als das ihre ansahen und das sie zugänglicher und verständlicher gestalten wollten. Das trifft auch auf die Abfassung religiöser Texte zu, die auf keinen Fall lateinisch sein sollten. Die Lauda spirituale entspricht diesem neuen Bedürfnis: Diese poetischen Texte in italienischer Mundart mit religiösem Inhalt sind verbunden mit dem erstarken der Bruderschaften und Bünde, die sie in Auftrag gaben, vor allem mit den „Flagellanten“. Frühere epochen hatten unter der Bezeichnung „Mysterienspiele“ Inszenierungen der großen episoden aus dem Leben Jesu, der Jungfrau Maria und der Heiligen gekannt, die jedoch meist auf kirchlichem Areal und in lateinischer Sprache aufgeführt wurden. Die Laudes aber werden im urbanen Raum, auf öffentlichen Straßen und Plätzen gesungen, außerhalb des direkten einflusses des Klerus, innerhalb jenes außerliturgischen Rahmens, in dem die Volksfrömmigkeit in der Regionalsprache ihren Ausdruck findet, der Sprache, in der sich die Ordensbrüder der Franziskaner und Dominikaner in ihren Predigten an die Gläubigen der Städte wenden. Während diese religiösen Gesänge ab dem 13. Jahrhundert in den prosperierenden Kommunen Italiens großen erfolg hatten, so gab es zur gleichen Zeit auch anderswo in europa ähnliche Ausdrucksformen liturgischen Singens: im französischsprachigen Bereich z. B. mit Les Miracles de Nostre Dame von Gauthier de Coincy und in Kastilien die Cantigas de Santa Maria, gesammelt von Alfonso X. demWeisen, König von Kastilien. All diese spirituellen Laudes teilen Gemeinsamkeiten, so hauptsächlich den Gebrauch der Mundart, aber auch den Marienkult, einen Kult, der seit dem 12. Jahrhundert leidenschaftlich praktiziert wurde, begleitet von einer Religiosität, die mehr Christus als Menschen von seiner Geburt als Armer bis zu seinem Tod als Sklave in den Vordergrund rückte, weit entfernt von einem rächenden Gott des Letzten Gerichts. Gleichwohl sind die musikalischen Besonderheiten der Laudes von Cortona einmalig, weil sie den musikalischen Geist der franziskanischen Liturgie dieser epoche erkennen lassen, der, während er den gregorianischen Stil bewahrt, eine klarere und verständlichere Melodieführung und Ton-Silbenverteilung angenommen hat. Gleichermaßen eingängig war die poetische Struktur der gewählten Liedform: die Ballade (eigentlich ein Tanzlied) mit aufeinanderfolgenden Vierzeilern, deren erste drei Verse sich jeweils reimen, während der vierte Vers aller Strophen auf denselben Reim endet. Das Laudario di Cortona ist folglich das erste bekannte Dokument, in dem die italienische Sprache sowohl geschrieben als auch vertont ist. Jedoch handelt es sich nicht um den ersten religiösen poetischen Text auf Italienisch: es ist Franz von Assisi, der dieses Idiom als erster verwendete, um ein Kirchenlied von großartiger lyrischer Poesie, den Sonnengesang, zu verfassen, dank dessen die italienische Dichtung mit einem Wunder beginnt. Hier muss man auch über Franz von Assisi sprechen, da sein einfluss auf die Sammlung von Cortona in mehr als einer Beziehung in erscheinung tritt. Zunächst, weil man davon ausgeht, dass das Manuskript, das imKonvent der Franziskaner in Cortona aufbewahrt wurde, von elias Bonusbaro in Auftrag gegeben wurde. er war einer Franz besonders nahestehenden Schüler und Vertrauten und wurde nach dessen Tod im Jahr 1226 sein Canticum Novum (v. l. Henri-Charles Caget, Philippe Roche, Gwénaël Bihan, Valérie Dulac, Aliocha Regnard, Barbara Kusa, Emmanuel Bardon) Foto: Bertrand Pichène

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