Tage Alter Musik – Programmheft 2024

Tage alTer Musik regensburg Mai 2024 und der Tatsache, dass die Messe auf einem bekannten einstimmigen italienischen lied beruht. Das lied Scaramella ist in zwei mehrstimmigen Fassungen von Josquin des Prez und loyset Compère bekannt, die wir in dieses Programm mit einbeziehen. in Obrechts Messe ist das Vorhandensein des lieds meist leicht zu erschließen. sehr oft erscheint die Melodie im Tenor, wie beispielsweise in den beiden kyrie-Teilen, wo sie unverändert zitiert wird, doch manchmal taucht sie auch im Discantus auf. Hier sind auch die deutlichsten anklänge an die ausgangsmelodie zu vernehmen, zum beispiel im Et incarnatus est. im Hosanna I ist die Melodie zweimal im bass zu hören, im Hosanna II singt sie der Tenor, im Agnus Dei I greift sie der alt auf, während sie im Agnus Dei II wieder in die Oberstimme wechselt. um diesen „kreis innerhalb eines kreises“ abzuschließen, wird sie im Agnus Dei III nacheinander von allen vier stimmen gesungen. es gibt auch noch weitere kunstgriffe bezüglich der Scaramella-Melodie: im Pleni sunt coeli erscheint sie gleichzeitig in normaler Form und in umkehrung. Tatsächlich setzt Obrecht sie in jedem Teil der Messe ein und – was noch ungewöhnlicher ist – in allen vier stimmen. Obwohl ein genaueres Datum der komposition unbekannt ist, lässt der wiederholte einsatz der Melodie mit all ihren Möglichkeiten auf einen relativ späten Zeitpunkt in der karriere des komponisten schließen. auch die Provenienz der stimmbücher aus der krakauer bibliothek, die vermutlich im umfeld des Hofes von Maximilian während der zweiten Dekade des 16. Jahrhunderts kopiert wurden, stützt diese Hypothese. Der eindruck von kompaktheit (etwas näher an der Missa sub tuum presidium als an der Missa Maria zart) ist nicht nur eine Frage der länge: der aufbau eines jeden satzes ist „leicht zu lesen“, sogar in den umfangreicheren. Das Gloria besteht zumeist aus Duos, die oft aufeinander antworten. Die für Obrecht typischen sequenzen und Wiederholungen sind ebenso offensichtlich, aber sparsam und mit großer Wirkung eingesetzt. besonders eindrucksvoll ist die stelle Qui tollis, wenn die Oberstimme und die unterstimme gegen die Scaramella-Melodie im Tenor lange, in einem parallelen rhythmus verlaufende noten singen, während der alt in freiem kontrapunkt zwischen beiden Tonlinien hin- und herspringt. Das Credo ist in einem viel größeren Tonumfang gehalten, wobei jeder seiner drei abschnitte mit der ausgangsmelodie anders verfährt. Obrechts notation in den beiden äußeren Teilen ist bemerkenswert. Das Et incarnatus est wurde bereits erwähnt, aber es ist in mehr als einer Hinsicht das Herzstück des Zyklus: die unablässige bewegung der drei tiefen stimmen, während die Oberstimme langsam den Cantus firmus entfaltet, hat einen magischen effekt. es scheint, als wäre jede bewegung soeben eigenständig neu konzipiert worden als eine eigene Variation der Scaramella-Melodie. sollte jemals eine vollständige Quelle gefunden werden, bestünde wohl kaum Zweifel, dass die Scaramella-Messe zu den besten Werken des komponisten gezählt werden müsste. Dieses Programm gedenkt auch Philip Wellers, eines lieben Freundes und langjährigen Mitarbeiters des binchois Consort, für das Philip Weller viele fragmentarisch überlieferte Werke für aufführungen und einspielungen rekonstruiert hat. er war es, der den Vorschlag machte, wir beide sollten doch bei der Vervollständigung der Scaramella-Messe zusammenarbeiten. Wir waren damit noch nicht weit gekommen, als er plötzlich ende 2018 starb. ich hatte meine Zweifel, ob ich die arbeit ohne ihn fortführen könnte, doch der leiter des binchois Consort andrew kirkman überredete mich, es mit der unterstützung eines dritten kollegen, Paul kolb von der alamire Treboner Altarbild: Ausschnitt aus der Auferstehung, Meister von Wittingau (Meister des Treboner Altarbildes) ca. 1380-1390, Nationalgalerie, Prag Jacob Obrecht, Porträt, Kimball Art Gallery, Forth Worth, Texas 54

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